Entscheidungsstichwort (Thema)
Weiter Gestaltungsspielraum und Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien bei den Tarifregelungen. Praktische Konkordanz bei der Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien. Sachliche Gründe für unterschiedliche Höhe des Nachtarbeitszuschlags für regelmäßige Nachtschichtarbeit und unregelmäßige Nachtarbeit
Leitsatz (redaktionell)
1. Den Tarifvertragsparteien kommt als selbstständigen Grundrechtsträgern aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Sie haben eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen, gestützt auf sachlich vertretbare Gründe.
2. Der Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 3 GG verpflichtet die staatlichen Arbeitsgerichte dazu, die Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien zu beschränken, wenn diese mit Grundrechten Dritter kollidiert. Die Arbeitsgerichte sind befugt und verpflichtet, insoweit eine praktische Konkordanz herzustellen und zum Beispiel gleichheitswidrige Differenzierungen in Tarifnormen zu unterbinden.
3. Aspekte des Gesundheitsschutzes sowie ein Ausgleich für eingeschränkte Teilnahme am sozialen Leben sind sachlich ausreichende Gründe für eine Differenzierung des tariflichen Nachtarbeitszuschlags.
Normenkette
ArbZG § 6 Abs. 5; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3, Art. 1 Abs. 3; MTV für die in den Molkereien und Käsereien tätigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer § 5 Nr. 3 Fassung: 2007-03-23, § 6 Nr. 1 Buchst. b)-c) Fassung: 2007-03-23; Anerkennungs-Tarifvertrag zum MTV § 6 Nr. 1 Buchst. b)-c) Fassung: 2010-07-01
Verfahrensgang
ArbG Osnabrück (Entscheidung vom 18.02.2020; Aktenzeichen 3 Ca 297/19) |
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Osnabrück vom 18.02.2020 - 3 Ca 297/19 - wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Zahlung tariflicher Zuschläge für Nachtarbeit, die von dem Kläger in den Monaten Januar 2019 bis einschließlich Mai 2019 geleistet wurde.
Der Kläger ist seit dem 02.01.1992 bei der Beklagten, einer Herstellerin von Milchprodukten, beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien werden der "Anerkennungstarifvertrag zum MTV, Everswinkel" vom 01.07.2010 (nachfolgend kurz "AnerkennungsTV" genannt) sowie der "Manteltarifvertrag für die in den Molkereien und Käsereien im Lande tätigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer" vom 23.03.2007 (nachfolgend kurz "MTV" genannt) angewendet. Tarifschließende Partei beider Tarifverträge ist unter anderem die Gewerkschaft NGG, deren Mitglied der Kläger ist.
In dem AnerkennungsTV heißt es - auszugsweise:
"§ 1
Geltungsbereich
a) räumlich
für die Betriebsstätten, [...]
b) persönlich
für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der o. g. Betriebe der, soweit sie Mitglied der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten sind
§ 2
Tarifbindung
Die Firma verpflichtet sich, den nachstehend aufgeführten Tarifvertrag ab 1. Januar 2011 zur Anwendung zu bringen:
Manteltarifvertrag für die in den Molkereien und Käsereien im Lande tätigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, abgeschlossen zwischen dem Arbeitgeberverband der Westfälisch-Lippischen Land- und Forstwirtschaft e. V., Münster, dem Nordwestdeutschen Arbeitgeberverein der Privatmolkereien (NAP), Bonn, dem Rheinisch-Westfälischen Genossenschaftsverband e. V., Münster und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten im DGB, Landesbezirk Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, vom 23. März 2007, gültig ab 1. März 2007 [...]"
In dem vorgenannten Manteltarifvertrag finden sich unter anderem folgende Regelungen:
"§ 4
Schichtfreizeit für Dreischichtbetriebe
Für 45 geleistete Nachtschichten wird ein Tag Schichtfreizeit gewährt. Das Entgelt für diese Schichtfreizeit wird berechnet wie Urlaubsentgelt ohne Urlaubsgeld.
Der Zeitpunkt der Schichtfreizeit richtet sich nach den Erfordernissen des Betriebes. Volle Tage an Schichtfreizeit sind im Bezugsjahr zu nehmen. Nachtschichten, die in einem Jahr nicht zu Schichtfreizeit führen, weil ihre Summe die Bezugszahl nicht erreicht hat, werden auf das nächste Kalenderjahr vorgetragen. Ist die Bezugszahl im Falle des Ausscheidens eines Mitarbeiters nicht erreicht, so verfällt der Restanspruch.
Arbeitnehmer im Dreischichtsystem haben innerhalb ihrer Schicht Anspruch auf eine bezahlte Essenspause von 30 Minuten oder zweimal 15 Minuten Dauer.
§ 5
Mehr-, Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit
1. Mehr-, Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit ist nach Möglichkeit zu vermeiden. Wenn sie betrieblich notwendig ist, kann sie nach Zustimmung des Betriebsrates angeordnet werden. Wenn in unvorhergesehenen Bedarfsfällen einzelne Beschäftigte zu solchen Arbeiten herangezogen werden, ist der Betriebsrat nachträglich zu verständigen.
2. Mehrarbeit ist die über die regelmäßige vereinbarte wöchentliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeit (37, 38, 39 oder 40 Stunden).
3. Als Nachtarbeit gelten die Stunden von 20.00 Uhr bis 5.00 Uhr.
4. Bei geleisteter N...