Entscheidungsstichwort (Thema)
Weiter Gestaltungsspielraum und Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien bei der tariflichen Normsetzung. Zulässige Differenzierung zwischen regelmäßiger Schichtnachtarbeit und unregelmäßiger Nachtarbeit. Praktische Konkordanz zwischen Grundrechtsausübung der Tarifvertragsparteien und Gleichheitsrechten der Normunterworfenen
Leitsatz (amtlich)
1. Die Differenzierung zwischen Nachtarbeit in der Zeit von 21:00 Uhr bis 5:00 Uhr, die keine Schichtarbeit ist (50 %) und Schichtarbeit, die in die Nachtzeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr fällt (25 %) bei der Zuschlagshöhe im Manteltarifvertrag für die Erfrischungsgetränke-Industrie Niedersachsen/Bremen vom 10.03.1998 verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, sie hält sich im Rahmen der den Tarifvertragsparteien nach Art. 9 Abs. 3 GG zustehenden Einschätzungsprärogative.
2. Eine Differenzierung bei der Höhe von Nachtzuschlägen ist nicht in jedem Fall gleichheitswidrig. Praktische Konkordanz zwischen der Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien nach Art. 9 Abs. 3 GG und den Gleichheitsrechten der Normunterworfenen (Art. 3 Abs. 1 GG) ist für jede tarifvertragliche Regelung, die unterschiedliche Zuschläge für Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit vorsieht, gesondert herzustellen.
Leitsatz (redaktionell)
Den Tarifvertragsparteien als selbstständigen Grundrechtsträgern kommt aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Sie haben eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen. Bei der Lösung tarifpolitischer Konflikte sind sie nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Vereinbarung zu treffen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlicher Grund besteht.
Normenkette
ArbZG § 6 Abs. 5; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3, Art. 1 Abs. 3; BGB § 138 Abs. 2; MTV Erfrischungsgetränkeindustrie Niedersachsen/Bremen § 4 Fassung: 1998-03-10
Verfahrensgang
ArbG Hildesheim (Entscheidung vom 06.02.2020; Aktenzeichen 1 Ca 143/19) |
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hildesheim vom 6. Februar 2020 - 1 Ca 143/19 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
2. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über tarifliche Nachtzuschläge für Schichtarbeit.
Der Kläger ist bei der Beklagten beschäftigt. Bei der Beklagten handelt es sich um ein Unternehmen der Getränkeindustrie. Bei ihr wird grundsätzlich in Wechselschicht - Frühschicht von 6:00 Uhr bis 14:00 Uhr, Spätschicht von 14:00 Uhr bis 22:00 Uhr und Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr - gearbeitet. Für das Arbeitsverhältnis gilt kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Unternehmenstarifvertrag zwischen der Gewerkschaft NGG und der Beklagten vom 27.03.2015. Hier ist vereinbart, dass der Manteltarifvertrag für die Erfrischungsgetränke-Industrie Niedersachsen vom 10.03.1998 (im Folgenden: MTV) auf die Arbeitsverhältnisse der Beschäftigten anzuwenden ist, die Mitglied der Gewerkschaft NGG sind.
Der MTV enthält ua. folgende Regelung:
"§ 4
Mehr-, Nacht-, Schicht-, Sonn- und Feiertagsarbeit
I. Begriffsbestimmungen
...
2. Nachtarbeit ist die in der Zeit von 21.00 Uhr bis 5.00 Uhr geleistete Arbeit. Bei Schichtarbeit beginnt die Nachtarbeit um 22.00 Uhr und endet um 6.00 Uhr.
...
5. Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit ist ebenso wie Mehrarbeit nach Möglichkeit zu vermeiden. Sie ist - außer bei regelmäßiger Schichtarbeit - im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen nur vorübergehend in Fällen einer dringenden betrieblichen Notwendigkeit zulässig. Die Beschäftigten sind verpflichtet die im Rahmen dieser Bestimmungen im Einvernehmen mit dem Betriebsrat festgelegte Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit zu leisten.
...
II. Vergütung
1. Für Mehr-, Nacht-, Schicht-, Sonn- und Feiertagsarbeit sind folgende Zuschläge zu zahlen:
a) für Mehrarbeit |
25 v. H. |
b) für Mehrarbeit ab der dritten Stunde täglich und für Mehrarbeit, die an Sonnabenden geleistet wird |
30 v. H. |
c) für Nachtarbeit in der Zeit von 21.00 Uhr bis 5.00 Uhr, die keine Schichtarbeit ist |
50 v. H. |
d) für Schichtarbeit, die in die Nachtzeit von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr fällt |
25 v. H. |
e) für Arbeit an Sonntagen |
75 v. H. |
f) für Arbeiten an gesetzlichen Feiertagen, ferner an Weihnachtsfeiertagen und am 1. Mai, auch wenn diese Tage auf einen Sonntag fallen, sowie am Ostersonntag und am Pfingstsonntag |
200 v.H. |
3. Bei Angestellten und Monatslöhnern ist zur Berechnung des Entgelts je Arbeitsstunde, bei Stundenlöhnern zur Berechnung des Monatslohns von einem Divisor bzw. Multiplikator von 165 auszugehen.
Die Zuschläge werden von dem tatsächlichen Stundenverdienst, bei Angestellten und Monatsentgeltempfängern von der tatsächlichen Monatsvergütung, berechnet. Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge ist nur der höchste, bei gleicher Höhe nur ein Zuschlag zu zahlen. Dies gilt nicht für den Nachtschichtzuschlag, der gesondert neben anderen Zuschlägen zu zahlen ist.
..."
Der Kläger ist bei der Beklagt...