Entscheidungsstichwort (Thema)
Weiter Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien. Grundrechtsausübung und Beachtung des Gleichheitsgrundsatzes. Unterschiedliche tarifliche Zuschlagshöhe bei der Nachtarbeit. Sachliche Rechtfertigung für die unterschiedliche Zuschlagshöhe bei der Nachtarbeit
Leitsatz (redaktionell)
1. Den Tarifvertragsparteien als selbstständigen Grundrechtsträgern kommt durch die in Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Sie haben eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten, betroffenen Interessen und Rechtsfolgen.
2. Der Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 3 GG verpflichtet die staatlichen Arbeitsgerichte dazu, die Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien zu beschränken, wenn diese mit den Freiheits- und Gleichheitsrechten oder anderen Rechten mit Verfassungsrang der Normunterworfenen kollidiert. Sie müssen insoweit eine praktische Konkordanz herstellen und gleichheitswidrige Differenzierungen in Tarifnormen unterbinden.
3. Sieht ein Tarifvertrag für regelmäßige Nachtschichtarbeit einen Zuschlag von 25 % vor, für unregelmäßige oder sonstige Nachtarbeit, die keine Schichtarbeit ist, einen Zuschlag von 50 %, muss ein sachlich vertretbarer Grund für diese an sich gleichheitswidrige Differenzierung gegeben sein.
4. Die Absicht der Tarifvertragsparteien, unregelmäßige Nachtarbeit durch die Höhe des Zuschlags für den Arbeitgeber unattraktiv zu machen, stellt einen sachlich vertretbaren Grund für die unterschiedliche Zuschlagshöhe dar. Außerdem ist der höhere Zuschlag nicht extrem hoch, sondern trägt der gesundheitlichen Belastung und der Kompensation sozialer Folgen unregelmäßiger Nachtarbeit Rechnung. Die ungleiche Zuschlagshöhe verstößt deshalb nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
Normenkette
GG Art. 1 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3; ArbZG § 6 Abs. 5; MTV Erfrischungsgetränkeindustrie Niedersachsen § 4 Nr. I.5 Fassung: 1998-03-10; MTV Erfrischungsgetränkeindustrie Niedersachsen § 4 Nr. II.1. Buchst. c) Fassung: 1998-03-10, Buchst. d) Fassung: 1998-03-10
Verfahrensgang
ArbG Hildesheim (Entscheidung vom 06.02.2020; Aktenzeichen 1 Ca 144/19) |
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hildesheim vom 6. Februar 2020 - 1 Ca 144/19 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
2. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über tarifliche Nachtzuschläge für Schichtarbeit.
Der Kläger ist bei der Beklagten beschäftigt. Bei der Beklagten handelt es sich um ein Unternehmen der Getränkeindustrie. Bei ihr wird grundsätzlich in Wechselschicht - Frühschicht von 6:00 Uhr bis 14:00 Uhr, Spätschicht von 14:00 Uhr bis 22:00 Uhr und Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr - gearbeitet. Für das Arbeitsverhältnis gilt kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Unternehmenstarifvertrag zwischen der Gewerkschaft NGG und der Beklagten vom 27.03.2015. Hier ist vereinbart, dass der Manteltarifvertrag für die Erfrischungsgetränke-Industrie Niedersachsen vom 10.03.1998 (im Folgenden: MTV) auf die Arbeitsverhältnisse der Beschäftigten anzuwenden ist, die Mitglied der Gewerkschaft NGG sind.
Der MTV enthält ua. folgende Regelung:
"§ 4
Mehr-, Nacht-, Schicht-, Sonn- und Feiertagsarbeit
I. Begriffsbestimmungen
...
2. Nachtarbeit ist die in der Zeit von 21.00 Uhr bis 5.00 Uhr geleistete Arbeit. Bei Schichtarbeit beginnt die Nachtarbeit um 22.00 Uhr und endet um 6.00 Uhr.
...
5. Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit ist ebenso wie Mehrarbeit nach Möglichkeit zu vermeiden. Sie ist - außer bei regelmäßiger Schichtarbeit - im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen nur vorübergehend in Fällen einer dringenden betrieblichen Notwendigkeit zulässig. Die Beschäftigten sind verpflichtet die im Rahmen dieser Bestimmungen im Einvernehmen mit dem Betriebsrat festgelegte Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit zu leisten.
...
II. Vergütung
1. Für Mehr-, Nacht-, Schicht-, Sonn- und Feiertagsarbeit sind folgende Zuschläge zu zahlen:
a) für Mehrarbeit |
25 v. H. |
b) für Mehrarbeit ab der dritten Stunde täglich und für Mehrarbeit, die an Sonnabenden geleistet wird |
30 v. H. |
c) für Nachtarbeit in der Zeit von 21.00 Uhr bis 5.00 Uhr, die keine Schichtarbeit ist |
50 v. H. |
d) für Schichtarbeit, die in die Nachtzeit von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr fällt |
25 v. H. |
e) für Arbeit an Sonntagen |
75 v. H. |
f) für Arbeiten an gesetzlichen Feiertagen, ferner an Weihnachtsfeiertagen und am 1. Mai, auch wenn diese Tage auf einen Sonntag fallen, sowie am Ostersonntag und am Pfingstsonntag |
200 v.H. |
3. Bei Angestellten und Monatslöhnern ist zur Berechnung des Entgelts je Arbeitsstunde, bei Stundenlöhnern zur Berechnung des Monatslohns von einem Divisor bzw. Multiplikator von 165 auszugehen.
Die Zuschläge werden von dem tatsächlichen Stundenverdienst, bei Angestellten und Monatsentgeltempfängern von der tatsächlichen Monatsvergütung, berechnet. Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge ist nur der höchste, bei gleicher Höhe nur ein Zuschlag zu zahlen. Dies gilt nicht für den Nachtschichtzuschlag...