Entscheidungsstichwort (Thema)
Unbegründete außerordentliche Kündigung wegen Mitnahme von Werbemitteln ohne vorherige Abmahnung
Leitsatz (redaktionell)
1. Begeht die Arbeitnehmerin bei oder im Zusammenhang mit ihrer Arbeit rechtswidrige und vorsätzliche (strafbare) Handlungen unmittelbar gegen das Vermögen ihrer Arbeitgeberin, verletzt sie zugleich in schwerwiegender Weise ihre schuldrechtliche Pflicht zur Rücksichtnahme (§ 241 Abs. 2 BGB) und missbraucht das in sie gesetzte Vertrauen; ein solches Verhalten kann auch dann einen wichtigen Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB darstellen, wenn die rechtswidrige Handlung Sachen von nur geringem Wert betrifft oder zu einem nur geringfügigen oder möglicherweise zu gar keinem Schaden geführt hat.
2. Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten der Arbeitnehmerin, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ihr künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann; ordentliche und außerordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus.
3. Einer Abmahnung bedarf es nach Maßgabe des auch in § 314 Abs. 2 zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dann nicht, wenn bereits im Voraus erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme der Arbeitgeberin nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich (auch für die Arbeitnehmer erkennbar) ausgeschlossen ist.
4. Der Abmahnungsgrundsatz gilt uneingeschränkt selbst bei Störungen des Vertrauensbereichs durch Straftaten gegen das Vermögen oder Eigentum der Arbeitgeberin; auch in diesem Bereich gibt es keine "absoluten" Kündigungsgründe.
5. Für den Grad des Verschuldens und die Möglichkeit einer Wiederherstellung des Vertrauens macht es objektiv einen Unterschied, ob es sich bei einer Pflichtverletzung um ein Verhalten handelt, das insgesamt (wie etwa der vermeintlich unbeobachtete Griff in die Kasse) auf Heimlichkeit angelegt ist oder nicht.
6. Für die Zumutbarkeit der Weiterbeschäftigung kann es von erheblicher Bedeutung sein, ob die Arbeitnehmerin bereits geraume Zeit in einer Vertrauensstellung beschäftigt war, ohne vergleichbare Pflichtverletzungen begangen zu haben; das gilt auch bei Pflichtverstößen im unmittelbaren Vermögensbereich, denn eine für lange Jahre ungestörte Vertrauensbeziehung zweier Vertragspartner wird nicht notwendig schon durch eine erstmalige Vertrauensenttäuschung vollständig und unwiederbringlich zerstört.
Normenkette
BGB § 626 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 314 Abs. 2, § 611 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Koblenz (Entscheidung vom 10.03.2015; Aktenzeichen 12 Ca 3089/14) |
Tenor
I.
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 10. März 2015 - 12 Ca 3089/14 - wie folgt abgeändert, soweit es die weitergehende Klage abgewiesen hat:
- Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche Kündigung vom 21. Juli 2014 nicht beendet worden ist.
- Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die ordentliche Kündigung vom 21. Juli 2014 nicht beendet worden ist.
- Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die weitere außerordentliche Kündigung vom 24. Juli 2014 nicht beendet worden ist.
- Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung vom 24. Juli 2014 nicht beendet worden ist.
- Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreites zu unveränderten Bedingungen als Teamleiterin des Kassenbereichs im G H in Z weiter zu beschäftigen.
II.
Die Kosten des Rechtsstreits erster und zweiter Instanz trägt die Beklagte.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit außerordentlicher, hilfsweise ordentlicher Kündigungen der Beklagten wegen der Mitnahme von Werbemitteln und um die Weiterbeschäftigung der Klägerin.
Die bei Kündigungsausspruch 60 Jahre alte, geschiedene Klägerin ist seit 11. November 1991 bei der Beklagten, die Selbstbedienungswarenhäuser mit wesentlich mehr als 10 Arbeitnehmern mit Ausnahme der Auszubildenden betreibt, in deren Betriebsstätte Z beschäftigt, zunächst als Kassiererin, zuletzt als Teamleiterin des Kassenbereichs zu einem durchschnittlichen monatlichen Bruttogehalt von 3.200,00 Euro.
Die Klägerin ist Vorgesetzte sämtlicher Kassiererinnen der Beklagten in der Betriebsstätte Z. In ihrer Funktion ist der Klägerin der gesamte Geldbestand der Beklagten anvertraut. Geschäftsleiter in Z ist der Zeuge R. Dieser trägt die wirtschaftliche und personelle Verantwortung der Betriebsstätte, hat infolgedessen umfassende personelle Befugnisse, insbesondere die Letztentscheidungskompetenz hinsichtlich Einstellungen und Entlassungen, von der er ohne Vorlage ei...