Entscheidungsstichwort (Thema)

Darlegungslast der Arbeitgeberin bei krankheitsbedingter Kündigung ohne betriebliches Eingliederungsmanagement. Unwirksame Kündigung eines Produktionshelfers wegen häufiger Kurzerkrankungen bei unzureichenden Darlegungen der Arbeitgeberin zur Aussichtslosigkeit des Eingliederungsmanagements

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Durchführung des betrieblichen Eingliederungsmanagements gemäß § 84 Abs. 2 SGB IX ist keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Kündigung; § 84 Abs. 2 SGB IX ist jedoch auch kein bloßer Programmsatz sondern konkretisiert den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, da mit Hilfe des betrieblichen Eingliederungsmanagements möglicherweise mildere Mittel als die Kündigung erkannt und entwickelt werden können.

2. Das Fehlen eines betrieblichen Eingliederungsmanagements ist nur dann unschädlich, wenn auch seine Durchführung keine positiven Ergebnisse hätte zeitigen können; um darzutun, dass die Kündigung dem Verhältnismäßigkeitsprinzip genügt und keine milderen Mittel zur Überwindung der krankheitsbedingten Störung des Arbeitsverhältnisses als die Beendigungskündigung offenstanden, muss die Arbeitgeberin die objektive Nutzlosigkeit des betrieblichen Eingliederungsmanagements darlegen, wozu sie umfassend und detailliert vorzutragen hat, warum ein betriebliches Eingliederungsmanagement in keinem Fall dazu hätte beitragen können, neuerlichen Krankheitszeiten oder der Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit entgegenzuwirken und das Arbeitsverhältnis zu erhalten.

3. Ist es denkbar, dass ein betriebliches Eingliederungsmanagement ein positives Ergebnis erbracht und somit das gemeinsame Suchen nach Maßnahmen zum Abbau von Fehlzeiten oder zur Überwindung der Arbeitsunfähigkeit Erfolg gehabt hätte, muss sich die Arbeitgeberin regelmäßig vorhalten lassen, sie habe "vorschnell" gekündigt.

4. Ein betriebliches Eingliederungsmanagement ist nicht nur bei lang andauernden Krankheiten geboten sondern auch bei häufigen Kurzerkrankungen des Arbeitnehmers nicht ausgeschlossen oder von vorneherein überflüssig; nach der gesetzlichen Regelung des § 84 Abs. 2 SGB IX kommt es allein auf den Umfang und nicht auf die Ursache der Erkrankungen an.

5. Auch aus Krankheiten, die auf unterschiedlichen Grundleiden beruhen, kann sich (zumal wenn sie auf eine generelle Krankheitsanfälligkeit des Arbeitnehmers hindeuten) eine Gefährdung des Arbeitsverhältnisses ergeben, der das betriebliche Eingliederungsmanagement entgegenwirken soll.

6. Die Arbeitgeberin muss dartun, dass jedenfalls durch gesetzlich vorgesehene Hilfen oder Leistungen der Rehabilitationsträger künftige Fehlzeiten nicht in relevantem Umfang hätten vermieden werden können; solche Maßnahmen muss die Arbeitgeberin grundsätzlich in Erwägung ziehen und insbesondere aufzuzeigen, warum Maßnahmen zur kurativen Behandlung und/oder der medizinischen Rehabilitation im Sinne des § 26 SGB IX (zu denen im Übrigen nach § 26 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX auch die "Anleitung, eigene Heilungskräfte zu entwickeln" zählt) nicht in Betracht gekommen wären oder doch zu einer erheblichen Verringerung der Fehlzeiten nicht hätten beitragen können.

7. Hat die Arbeitgeberin ein betriebliches Eingliederungsmanagement unterlassen, muss sie von sich aus ihre objektive Nutzlosigkeit aufzeigen und beweisen; dabei kommt eine Abstufung ihrer Darlegungslast in Betracht, falls ihr die Krankheitsursachen unbekannt sind.

 

Normenkette

KSchG § 1 Abs. 2; SGB IX § 84 Abs. 2; KSchG § 1 Abs. 2 S. 1 Alt. 1; SGB IX § 84 Abs. 2 S. 2, § 26 Abs. 2 Nr. 1; ZPO § 138

 

Verfahrensgang

ArbG Koblenz (Entscheidung vom 25.02.2015; Aktenzeichen 4 Ca 3795/14)

 

Tenor

  1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 25. Februar 2015, Az. 4 Ca 3795/14, wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
  2. Die Revision wird nicht zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer krankheitsbedingten Kündigung.

Der 1963 geborene Kläger (verheiratet, zwei Kinder) ist seit 22.06.1993 bei der Beklagten als Produktionshelfer zu einem Monatslohn von ca. € 2.000,- brutto beschäftigt. Die Beklagte betreibt ein Unternehmen für Glasveredelung. Sie beschäftigt in ihrem Werk in A-Stadt etwa 220 Arbeitnehmer; es besteht ein Betriebsrat.

Im Werk werden im Dreischichtbetrieb Trinkgläser über Automaten geeicht und dekoriert. Dafür müssen die von den Glashütten angelieferten Gläser ausgepackt und auf ein Fließband gestellt werden, das an dem Dekor- bzw. Eichautomaten vorbeiführt. Anschließend laufen die dekorierten Gläser über das Band in einen Brennofen. Nach dem Brennvorgang sind die Gläser vom Band zu nehmen und wieder in Kartons zu verpacken, die auf Paletten gestapelt dem Lager- und Versandbereich zugeführt werden. Diese Arbeiten sind von den Arbeitnehmern stehend und gehend in geschlossenen Räumen zu erledigen. Es handelt sich um leichte Tätigkeiten, weil die Gläser immer einzeln angefasst und auf das Band gestellt bzw. von diesem abgeräumt werden müssen. Aufgabe des Klägers ist es, die Gläser nach dem Brennv...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge