Entscheidungsstichwort (Thema)
Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO. Überprüfung der Sozialauswahl im Insolvenzfall. Grobe Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl. Grundsatz der subjektiven Determinierung bei der Betriebsratsanhörung. Konsultationspflicht aus § 17 Abs. 2 KSchG
Leitsatz (redaktionell)
1. Gibt es bei einer Betriebsänderung eine Namensliste zum Interessenausgleich, wird im Insolvenzfall nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO vermutet, dass die Kündigungen durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung entgegenstehen, bedingt sind.
2. Nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO kann die soziale Auswahl der zu kündigenden Arbeitnehmer nur eingeschränkt auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden. Denn diese Bestimmung soll eine erfolgreiche Sanierung insolventer Unternehmen fördern und Kündigungserleichterungen schaffen.
3. Die Sozialauswahl ist grob fehlerhaft, wenn ein evidenter, ins Auge springender schwerer Fehler vorliegt und der Interessenausgleich jede soziale Ausgewogenheit vermissen lässt. Dies ist auch bei einer offensichtlichen Überdehnung der betrieblichen Interessen der Fall.
4. Nach § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG muss der Arbeitgeber dem Betriebsrat diejenigen Gründe mitteilen, die nach seiner subjektiven Sicht die Kündigung rechtfertigen und für seinen Kündigungsentschluss maßgebend sind. Es gilt der Grundsatz der "subjektiven Determinierung".
5. Das Konsultationsverfahren des § 17 Abs. 2 KSchG soll dem Betriebsrat Einfluss auf die Willensbildung des Arbeitgebers ermöglichen. Dazu hat der Arbeitgeber die erforderlichen Auskünfte rechtzeitig zu erteilen. Er kann sie im Verlauf des Verfahrens über die Betriebsänderung mit Interessenausgleich noch vervollständigen und alle einschlägigen Informationen bis zu dessen Abschluss erteilen.
Normenkette
BetrVG § 102 Abs. 1; InsO § 125 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1-2; KSchG § 17 Abs. 2; InsO § 113 S. 2; KSchG § 1 Abs. 2 S. 1, Abs. 3; BetrVG § 111 S. 3 Nr. 1
Verfahrensgang
ArbG Kaiserslautern (Entscheidung vom 29.07.2021; Aktenzeichen 6 Ca 72/21) |
Tenor
- Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Kaiserslautern - Auswärtige Kammern Pirmasens - vom 29. Juli 2021, Az. 6 Ca 72/21, wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
- Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung.
Der im April 1978 geborene Kläger (ledig, kinderlos) war seit dem 8. Mai 2008 bei der Beklagten, zuletzt als Montageschlosser Hydraulik für All-Terrain-Cranes, beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis fanden aufgrund beiderseitiger Tarifbindung die Tarifverträge der pfälzischen Metall- und Elektroindustrie Anwendung. Der Kläger war in Entgeltgruppe 5 ERA eingruppiert. Die Beklagte ist ein Kranhersteller. Sie beschäftigte in ihren zwei Werken am Standort Z. (Y.straße und W.) vor der Massenentlassung 1.536 Arbeitnehmer; es besteht ein Betriebsrat.
Unter dem 8. Oktober 2020 beantragte die Beklagte die Eröffnung eines Schutzschirmverfahrens in Eigenverwaltung nach § 270b InsO. Mit Beschluss vom 8. Oktober 2020 (1 IN 52/20) hat das zuständige Amtsgericht Zweibrücken die vorläufige Eigenverwaltung im Schutzschirmverfahren angeordnet und WP/StB A. G. zum vorläufigen Sachwalter bestellt. Mit Beschluss vom 1. Januar 2021 hat das Amtsgericht das Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung eröffnet.
Nach Verhandlungen schloss die Beklagte am 4. Januar 2021 mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste, einen Insolvenzsozialplan sowie eine Betriebsvereinbarung zur Schaffung von Auffangstrukturen, die ua. die Errichtung einer Transfergesellschaft vorsah. Im Interessenausgleich wurden Umstrukturierungsmaßnahmen beschrieben, die zu einem Wegfall von Beschäftigungsmöglichkeiten führten. Es wurden ua. 58 Versetzungen, 51 Änderungskündigungen sowie 392 Beendigungskündigungen geregelt. In der mit dem Interessenausgleich fest verbundenen Namensliste der Mitarbeiter, denen die betriebsbedingte Beendigungskündigung ausgesprochen werden sollte, findet sich auch der Name des Klägers. Der Kläger lehnte den angebotenen Übertritt in die Transfergesellschaft ab.
Mit Schreiben vom 5. Januar 2021 hörte die Beklagte den Betriebsrat zu einer beabsichtigten betriebsbedingten ordentlichen Kündigung des Klägers mit der dreimonatigen Frist des § 113 Satz 2 InsO an. Der Betriebsrat stimmte der Kündigung mit Schreiben vom 11. Januar 2021 zu. Mit Formular und Begleitschreiben vom 11. Januar 2021 nebst Anlagen erstattete die Beklagte bei der zuständigen Agentur für Arbeit eine Massenentlassungsanzeige nach § 17 KSchG, deren Eingang die Agentur am 11. Januar 2021 bestätigte. Mit Schreiben vom 25. Januar 2021 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger zum 30. April 2021. Hiergegen erhob der Kläger rechtzeitig Kündigungsschutzklage.
Der Kläger hat erstinstanzlich zuletzt beantragt,
- festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 25. Januar 2021 beendet worden ist...