Entscheidungsstichwort (Thema)
Kündigung eines Betriebsratsmitglieds. Wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB. Dreistufiges Prüfungsschema bei krankheitsbedingter Kündigung. Erhöhte Anforderungen an das dreistufige Prüfungsschema bei Krankheit als wichtigem Grund für eine fristlose Kündigung
Leitsatz (redaktionell)
1. Gemäß § 15 Abs. 1 S. 1 KSchG ist die Kündigung eines Mitglieds eines Betriebsrats unzulässig, es sei denn, dass Tatsachen vorliegen, die den Arbeitgeber zur Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist berechtigen, und dass die nach § 103 BetrVG erforderliche Zustimmung vorliegt oder durch gerichtliche Entscheidung ersetzt ist.
2. Bei einer fristlosen Kündigung ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände "an sich", d. h. typischerweise, als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der Umstände des Falles jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht. Dabei ist eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit nicht per se ungeeignet, einen solchen wichtigen Grund darzustellen.
3. Die Überprüfung einer krankheitsbedingten Kündigung hat in drei Stufen zu erfolgen. Zunächst bedarf es einer negativen Prognose hinsichtlich des weiteren Gesundheitszustands des zu kündigenden Arbeitnehmers. Im Anschluss daran ist zu prüfen, ob die entstandenen und prognostizierten Fehlzeiten zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen. Abschließend wird nach Maßgabe einer einzelfallbezogenen Interessenabwägung geprüft, ob die erheblichen betrieblichen Beeinträchtigungen zu einer billigerweise nicht mehr hinnehmbaren betrieblichen und/oder wirtschaftlichen Belastung des Arbeitgebers führen.
4. Bei einer außerordentlichen Kündigung ist dieser Prüfungsmaßstab auf allen drei Stufen erheblich strenger. Er muss den hohen Anforderungen Rechnung tragen, die an eine außerordentliche Kündigung zu stellen sind. Die prognostizierten Fehlzeiten und die sich aus ihnen ergebende Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen müssen deutlich über das Maß hinausgehen, welches eine ordentliche Kündigung sozial rechtfertigen könnte. Es bedarf eines gravierenden Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung.
Normenkette
BGB § 626; KSchG § 15; BetrVG § 103; EFZG § 3 Abs. 1; TV-L § 34 Abs. 2
Verfahrensgang
ArbG Koblenz (Entscheidung vom 27.04.2021; Aktenzeichen 11 Ca 212/21) |
Tenor
- Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 09.06.2021, Az. 11 Ca 212/21, wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
- Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist.
Der im Jahr 1955 geborene Kläger ist einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Er ist seit dem Jahr 1979 bei der Beklagten beziehungsweise bei deren Rechtsvorgängerin beschäftigt. Er ist seit 2006 ununterbrochen Mitglied des bei der Beklagten gebildeten Betriebsrats, bereits in den 80er und 90er Jahren war er ebenfalls Betriebsratsmitglied.
In den Jahren 2013 bis 2017 war der Kläger im Schnitt an etwa 30 Arbeitstagen pro Jahr arbeitsunfähig erkrankt. Arbeitsunfähigkeitsursachen in diesen Jahren waren depressive Episoden, Anpassungsstörungen, sowie auch eine Gastroenteritis/ Kolitis und eine Sinusitis.
Im Jahr 2018 fehlte der Kläger 118 Arbeitstagen krankheitsbedingt (Sinusitis in März und Oktober, Dermatitis im Juli/ August, schwere depressive Episode im April, Juni und August bis Dezember), wobei die Beklagte für 88 Tage Entgeltfortzahlung zahlte, insgesamt in Höhe von 18.387,84 EUR.
Im Jahr 2019 fehlte er krankheitsbedingt an 202 Tagen (Varizen/ Venöse Insuffizienz im März/ April, Gastroenteritis Ende August, im Übrigen Phobische Störungen/ Soziale Phobien / depressive Episoden), hiervon 172 Tage mit Entgeltfortzahlung. Die Beklagte zahlte in diesem Jahr 36.587,84 EUR als Entgeltfortzahlung.
2020 (bis zum Stichtag 04.12.2020) fehlte der Kläger an 207 Tagen (Dermatitis im September, im Übrigen depressive Episoden/ Anpassungsstörungen), davon 120 Tage mit Entgeltfortzahlung, die Beklagte zahlte hier einen Gesamtbetrag von 25.526,40 EUR als Entgeltfortzahlung.
Mit Schreiben vom 07.08.2018, vom 13.03.2019 und vom 02.12.2019 sowie erneut vom 26.08.2020 lud die Beklagte den Kläger zu Gesprächen im Rahmen des Betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) ein. Der Kläger erklärte hierauf seine grundsätzliche Bereitschaft zur Teilnahme an einem BEM. Er schränkte jedoch in seiner E-Mail vom 17.08.2018 die Bereitschaft insofern ein, dass er ein Gespräch über das BEM erst "nach Überwindung seiner momentanen Arbeitsunfähigkeit" führen wolle. Am 29.04.2019 teilte er mit, er wolle zunächst eine fachärztliche Untersuchung abwarten. Am 14.01.2021 teilte er mit, er könne den ursprünglich für den Folgetag avisierten BEM-Gesprächstermin vorläufig wegen fortlaufender Arbeitsunfähigkeit nicht ...