Entscheidungsstichwort (Thema)
"Digitale" Unterrichtung des Betriebsrats gem. § 99 Abs. 1 BetrVG. "Sonstige Nachteile" i.S.d. § 99 Abs. 2 Nr. 3 BetrVG. Gebot der doppelten Antragstellung. "Sachliche Gründe" i.S.d. § 100 Abs. 1 BetrVG
Leitsatz (amtlich)
Die Vorlage der erforderlichen Bewerbungsunterlagen im Sinne von § 99 Abs. 1 S. 1 BetrVG muss nicht in Papierform, sondern kann auch in der Weise erfolgen, dass die Betriebsratsmitglieder, denen Dienst-Laptops zur Verfügung stehen, im Zuge der Information über eine beabsichtigte Einstellung umfassende Einsichtsmöglichkeiten in ein Bewerbermanagement-Tool erhalten.
Leitsatz (redaktionell)
1. Im Zeitalter der Digitalisierung und der fortschreitenden Organisation möglichst papierfreier Büros kann es keinen Unterschied mehr machen, ob dem Betriebsrat sämtliche Unterlagen in Papierform vorgelegt bzw. überlassen werden oder ob die Betriebsratsmitglieder durch Nutzung von Laptops in die Lage versetzt werden, sich die entsprechenden Kenntnisse zu verschaffen. Entscheidend ist die jederzeitige Möglichkeit, sich die erforderlichen Kenntnisse zu verschaffen, wobei es nicht darauf ankommt, ob der Betriebsrat diese durch Lesen von Papieren oder durch Lesen am Rechner erhält.
2. "Sonstige Nachteile" sind nicht unerhebliche Verschlechterungen in der tatsächlichen oder rechtlichen Stellung eines Arbeitnehmers. Regelungszweck des § 99 Abs. 2 Nr. 3 BetrVG ist allein die Erhaltung des Status quo der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer. Deren Arbeitsbedingungen sollen sich nicht erheblich verschlechtern oder erschweren.
3. Der Arbeitgeber muss den Feststellungsantrag nach § 100 Abs. 3 Satz 3 BetrVG gleichzeitig mit dem Zustimmungsersetzungsantrag nach § 99 Abs. 4 BetrVG stellen. Dieses Gebot der doppelten Antragstellung soll verhindern, dass der Arbeitgeber den Streit auf die Wirksamkeit der vorläufigen Maßnahme beschränkt und die Frage, ob der Betriebsrat ein Zustimmungsverweigerungsrecht hat, länger in der Schwebe bleibt.
4. Ob "sachliche Gründe" i.S.d. § 100 Abs. 1 BetrVG vorliegen, ist nach objektiven Gesichtspunkten zu prüfen. Es ist zu prüfen, ob ein verantwortungsbewusster Arbeitgeber im Interesse des Betriebs alsbald handeln muss, die geplante Maßnahme also letztlich keinen Aufschub verträgt. Die Maßnahme muss notwendig sein und kein zumutbarer anderer Weg darf zur Verfügung stehen.
Normenkette
BetrVG § 99 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, 4, § 100 Abs. 1-2
Verfahrensgang
ArbG Halle (Entscheidung vom 16.03.2022; Aktenzeichen 3 BV 84/21 NMB) |
ArbG Halle (Entscheidung vom 10.11.2021; Aktenzeichen 7 BV 71/21 NMB) |
Nachgehend
Tenor
1. Die Beschwerde des Betriebsrats gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Halle vom 10.11.2021 - 7 BV 71/21 NMB - wird zurückgewiesen.
2. Die Beschwerde des Betriebsrats gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Halle vom 16.03.2022 - 3 BV 84/21 NMB - wird zurückgewiesen.
3. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Beschlussverfahren über die Ersetzung der vom Betriebsrat verweigerten Zustimmung zur Einstellung eines Arbeitnehmers sowie über die Frage der Erforderlichkeit der vorläufigen Durchführung dieser personellen Einzelmaßnahme.
Die Beteiligte zu 1. (im Folgenden: Arbeitgeberin) ist ein Unternehmen der Getränkeindustrie und gehört zur S-Gruppe. Sie produziert am Standort W (OT L) Mineralwasser und andere Erfrischungsgetränke.
Der Beteiligte zu 2. (im Folgenden: Betriebsrat) ist der für den Betrieb in L gebildete Betriebsrat.
Die Arbeitgeberin schrieb Ende März 2021 eine bislang im Betrieb nicht vorhandene Stelle eines Prozess- und Projektspezialisten Technik (w/m/d) aus (Bl. 51 d.A.). Daraufhin erfolgten 33 externe Bewerbungen. Interne Bewerbungen von beschäftigten Mitarbeitern gab es nicht.
Nach Sichtung der Bewerbungen entschloss sich die Arbeitgeberin, den Bewerber T G zum 01.10.2021 als Prozess- und Projektspezialist Technik im Bereich Instandhaltung einzustellen.
Mit Schreiben vom 08.06.2021 beantragte sie gemäß § 99 BetrVG beim Betriebsrat dessen Zustimmung zur Einstellung von Herrn G. Auf den Inhalt des Schreibens (Bl. 6/7 d.A.) wird ausdrücklich Bezug genommen. Das Anhörungsschreiben ging beim Betriebsrat am 09.06.2021 ein.
Unter dem 14.06.2021 (Bl. 9 d.A.) teilte der Betriebsrat der Arbeitgeberin mit, dass er noch keine abschließende Stellungnahme abgeben könne, weil ihm noch nicht alle für seine Entscheidung notwendigen Informationen und Unterlagen vorlägen. Er benötige noch das Protokoll vom Bewerbungsgespräch bzw. Vorstellungsgespräch und die Stellenbeschreibung der neuen Stelle Prozess- und Projektspezialist Technik. Auf den weiteren Inhalt des Schreibens vom 14.06.2021 wird Bezug genommen.
Nach Zurverfügungstellung der geforderten Unterlagen fasste der Betriebsrat anlässlich seiner Sitzung am 24.06.2021 den Beschluss, seine Zustimmung zur beabsichtigten Einstellung des Herrn G nach § 99 Abs. 2 Nr. 3 BetrVG zu verweigern, weil durch die Einstellung bereits beschäftigte ...