Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausnahme vom Vorrang der Leistungsklage vor der Feststellungsklage. Individuelle Übung als Anspruchsgrundlage im Arbeitsrecht. Betriebliche Übung als Anspruchsgrundlage im Arbeitsrecht. Mitbestimmung des Betriebsrats bei der Festlegung von Provisionszielen
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine Feststellungsklage ist wegen des Vorrangs der Leistungsklage grundsätzlich unzulässig, wenn dem Kläger eine Klage auf Leistung möglich und zumutbar ist. Dieser Grundsatz steht der Zulässigkeit der Feststellungsklage aber dann nicht entgegen, wenn mit ihr eine sachgerechte, einfache Erledigung der aufgetretenen Streitpunkte erreichbar ist und prozesswirtschaftliche Überlegungen gegen einen Zwang zur Leistungsklage sprechen.
2. Eine individuelle Übung kommt immer dann in Betracht, wenn der Arbeitgeber eine Zahlung nur an einen Arbeitnehmer vorgenommen hat und damit (in Abgrenzung zur betrieblichen Übung) das kollektive Element fehlt. Voraussetzung ist, dass der Arbeitnehmer aus einem tatsächlichen Verhalten des Arbeitgebers auf ein Angebot schließen konnte, dass er gemäß § 151 BGB durch schlüssiges Verhalten angenommen hat.
3. Unter einer betrieblichen Übung ist die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers zu verstehen, aus denen die Arbeitnehmer schließen können, ihnen solle eine Leistung oder eine Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden. Aus diesem als Vertragsangebot zu wertenden Verhalten des Arbeitgebers, das von den Arbeitnehmern in der Regel stillschweigend angenommen wird (§ 151 BGB), erwachsen vertragliche Ansprüche auf die üblich gewordenen Leistungen.
4. Mitbestimmungspflichtig nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG sind die Strukturform des Entgelts einschließlich ihrer näheren Vollzugsform. Darunter fällt auch die Festlegung von Provisionszielen. Denn die Zuordnung bestimmter Provisionsziele zu bestimmten Tätigkeiten setzt eine Bewertung dieser Tätigkeiten und damit deren vergleichende Betrachtung voraus. Hierdurch ist unmittelbar die Lohngerechtigkeit im Betrieb berührt.
Normenkette
ZPO § 256; BetrVG § 87 Abs. 1 Nr. 10; BGB § 315 Abs. 3, § 151
Verfahrensgang
ArbG Neumünster (Entscheidung vom 28.04.2022; Aktenzeichen 4 Ca 589 b/21) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Neumünster vom 28.04.2022 - 4 Ca 589 b/21 - geändert und die Klage abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits (beide Rechtszüge).
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, auf welcher Berechnungsgrundlage der Anspruch des Klägers auf eine Jahresprovision zu ermitteln ist.
Die Beklagte ist ein Chemieunternehmen mit Sitz in N. und Teil des internationalen J. & J. Konzerns. Sie beschäftigt unter anderem überschlägig 490 Arbeitnehmer im Außendienst. Der Außendienst besteht aus verschiedenen Business Units bzw. Geschäftsbereichen, unter anderem aus der Business Unit DPS. Die Außendienstmitarbeiter erhalten für ihre Tätigkeit neben einem Fixum auch eine Provision.
Im Betrieb der Beklagten existiert eine "Rahmenbetriebsvereinbarung über variable Vergütung von Vertriebsmitarbeitern" vom 31.3.2015 (Bl. 29 ff. der Akte, im Folgenden "RBV"). Dort heißt es unter Ziff. 2:
"2. Vergütungsstruktur
(1) Die Vergütung der Arbeitnehmer des Außendienstes besteht grundsätzlich aus zwei Vergütungsbestandteilen, einem fixen Vergütungsbestandteil und einem variablen Bestandteil.
(2) Die Höhe des fixen Vergütungsbestandteils ergibt sich aus dem Arbeitsvertrag und der tariflichen Eingruppierung, soweit die Arbeitnehmer von dem persönlichen Geltungsbereich des Manteltarifvertrages-Chemie erfasst sind.
(3) Jährliche BU-bezogene Provisionssysteme: Für die im Betrieb N. ansässigen Business Units gelten unterschiedliche Provisionssysteme. Die Provisionssysteme sind auf das Kalenderjahr befristet. Der Arbeitgeberstellt dem Betriebsrat die BU-bezogenen Provisionssysteme für das Folgejahr vor Ablauf des laufenden Jahres, spätestens im Februar des Folgejahres, vor.
(4) Die Provisionssysteme sind mitbestimmt; sie bedürfen der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Betriebsrates. Die generelle,,Provisionssystematik" wird bis Mitte/Ende Januar des Folgejahresvorgestellt."
Auf Basis der RBV verhandelt die Beklagte mit ihrem Betriebsrat jährlich ein "Provisionsmodell", das in einer Matrix für den jeweiligen Zielerreichungsgrad einen Prozentsatz der zu erreichenden Zielprovision (Provisionshöhe bei Erreichung der Ziele zu 100 %) festlegt. Wegen Einzelheiten hierzu wird auf die Anlagen CMS 1 und CMS 2 verwiesen.
Der Kläger war seit dem 01.08.2008 bei der S. GmbH beschäftigt. Nach Ziff. 3 seines schriftlichen Arbeitsvertrags (Anlage 3, Bl. 54 - 61 Berufungsakte) erhielt er ein Festgehalt von EUR 4.000,-/Monat. Weiter wird dem Kläger ein Provisionssystem in Aussicht gestellt, über dessen Art und Höhe noch verhandelt werde. Unter dem 11.07.2008 schloss er mit der S. GmbH eine Provisionsvereinbarung (Bl. 62 Berufungsakte), die auszugsweise lautet:
"Zum 1. Januar 2009 wird d...