Entscheidungsstichwort (Thema)
Rücknahme eines Bescheides über die Gewährung einer Witwenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung wegen unterbliebener Anrechnung von Erwerbseinkommen. Streitgegenstand. Anrechnungsbetrag. hinreichende Bestimmtheit. grob fahrlässige Falschangaben. fehlende Datensatzübermittlungen anderer Sozialversicherungsträger
Leitsatz (amtlich)
1. Streitgegenstand bei der rentenschädlichen Anrechnung von Einkommen nach § 97 Abs 1 SGB VI ist die Festsetzung des Anrechnungsbetrags.
2. Die Rücknahmeentscheidung ist hinreichend bestimmt, wenn sich nach dem Gesamtzusammenhang der Anrechnungsbetrag, der betroffene Zeitraum und damit auch die zurückzunehmenden Bescheide erkennen lassen.
3. Grob fahrlässige Falschangaben liegen auch dann vor, wenn der Versicherte trotz Bestehen einer gesetzlichen Mitteilungspflicht relevante Umstände bewusst verschweigt.
Orientierungssatz
Fehlerhafte oder auch fehlende Datensatzübermittlungen anderer Sozialversicherungsträger respektive der Einzugsstellen sind dem Rentenversicherungsträger nicht zuzurechnen, auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer sog "Funktionseinheit". Im Verhältnis eines leistenden Trägers gegenüber Versicherten besteht keine Verpflichtung, in deren Interesse bei anderen Sozialversicherungsträgern Datenabgleiche durchzuführen (vgl LSG Stuttgart vom 19.10.2023 - L 10 R 2383/22 sowie vom 25.5.2023 - L 10 R 39/20), erst recht nicht "routinemäßig". Die Pflicht zur Mitteilung, ob und ggf in welcher Höhe Einkommen erzielt wird, trifft ausschließlich den Versicherten.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 07.12.2020 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten in der Sache darüber, ob die Beklagte die monatlich an den Kläger zur Auszahlung gelangten Beträge seiner Witwerrente ab 01.03.2001 wegen der Anrechnung von Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit herabsetzen und für die Zeit vom 01.03.2001 bis 30.09.2015 einen überzahlten Betrag i.H.v. 15.416,50 € zurückfordern darf.
Der 1939 geborene Kläger ist Witwer seiner 1944 geborenen und1991 verstorbenen Ehefrau I1, geborene R1 (im Folgenden nur: Versicherte). Auf seinen Antrag vom 27.04.1991 bewilligte ihm die Rechtsvorgängerin der Beklagten, die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte - BfA - (im Folgenden einheitlich: Beklagte), mit Bescheid vom 25.07.1991 (Bl. 31 ff. Falz I VerwA) Witwerrente beginnend ab dem 03.04.1991 unter Anrechnung von Erwerbseinkommen des Klägers. Im Rentenbescheid belehrte ihn die Beklagte u.a. dahingehend, dass die gesetzliche Verpflichtung bestehe, ihr eine Erhöhung oder das Hinzutreten von Einkommen unverzüglich mitzuteilen, wobei sich diese Mitteilungspflicht bei einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung erübrige. Auch wies sie auf das Ruhen einer Hinterbliebenenrente bei Hinzutreten von Erwerbs- oder Erwerbsersatzeinkommen hin.
In der Folge berechnete die Beklagte die große Witwerrente des Klägers unter Berücksichtigung des jeweils aktuellen Rentenwerts bzw. wegen Änderungen des anzurechnenden Einkommens aus Beschäftigung respektive einer Änderung des zu berücksichtigenden Anteils an persönlichen Entgeltpunkten für Kindererziehungszeiten mehrmals neu, wobei sie namentlich in den Bescheiden vom 13.05.1996, 02.06.1997 und vom 12.05.1998 jeweils auf die im früheren Rentenbescheid erteilten Hinweise zu Mitteilungspflichten sowie auf die dort genannten Umstände mit möglicher Auswirkung auf die Höhe der bewilligten Leistung aufmerksam machte.
Mit Rentenbescheid vom 27.03.2001 (S. 29 ff. SG-Akte) berechnete die Beklagte die Witwerrente abermals neu, dieses Mal für die Zeit ab dem 01.03.2001, weil der Kläger ab diesem Datum Altersrente aus seiner eigenen Versicherung von der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Baden-Württemberg bezog, sodass nunmehr (allein) dieses Erwerbsersatzeinkommen auf die große Witwenrente angerechnet wurde.
Mit Datum vom 06.08.2001 erließ die Beklagte sodann einen weiteren Rentenbescheid (S. 38 ff. SG-Akte), mit dem sie die große Witwerrente wiederum für die Zeit ab dem 01.03.2001 neu berechnete; hierbei setzte sie für die Zeit ab 01.03.2001 ein höheres anzurechnendes Altersrenteneinkommen als zuvor fest.
Es folgten weitere Neuberechnungsbescheide: vom 08.03.2004 (für die Zeit ab dem 01.04.2004, S. 48 f. SG-Akte), vom 08.11.2004 (für die Zeit ab dem 01.01.2005, S. 50 ff. SG-Akte) und vom 04.02.2005 (für die Zeit ab dem 01.04.2005, S. 53 ff. SG-Akte) jeweils wegen Beitragssatzänderungen sowie vom 18.05.2006 (für die Zeit ab dem 01.07.2006, S. 56 ff. SG-Akte) wegen einer Beitragssatzänderung und einer Änderung des anzurechnenden Einkommens und vom 24.09.2014 (für die Zeit ab dem 01.07.2014, S. 60 ff. SG-Akte) wegen des Zuschlags für Kindererziehung („Mütterrente“) sowie wiederum wegen einer Änderung des Anrechnungsbetrags aus dem Altersrenteneinkommen.
Anfang April 2019 erfuhr die Beklagte über einen B...