Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopferentschädigung. Unbilligkeit nach späterer Rache-Aktion des Opfers. Nichtachtung des staatlichen Gewaltmonopols durch Selbstjustiz. Rechtswidrigkeit des Angriffs. Schlägerei. Aussage gegen Aussage. Überzeugung des Gerichts von fehlender Notwehrlage des Angreifers. Glaubhaftigkeit der Aussagen des Angegriffenen. Aussagekonsistenz. Widersprüchlichkeit der Aussage. sozialgerichtliches Verfahren. Klage auf Anerkennung einer Gewalttat nach dem OEG. unzulässige Elementenfeststellung. kurzfristiger Terminverlegungsantrag. Verhandlungsunfähigkeit. erhöhte Darlegungsanforderungen an ein ärztliches Attest. Unschädlichkeit einer Erkrankung des Klägers bei anwaltlicher Vertretung. rechtliches Gehör

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Gewährung von Leistungen nach dem OEG ist unbillig und demnach nach § 2 Abs 1 S 1 Alt 2 OEG zu versagen, wenn der Anspruchsteller sich im Wege der Selbstjustiz Genugtuung für das vermeintlich ihm zugefügte Unrecht verschafft.

2. Die Unbilligkeit ergibt sich aus der Treuwidrigkeit des Verhaltens des Anspruchstellers, der sich durch die Forderung einer Entschädigung nach dem OEG auf das Versagen des staatlichen Gewaltmonopols beruft und zugleich mit seiner Selbstjustiz-Handlung zu erkennen gibt, dass er dieses staatliche Gewaltmonopol nicht beachtet.

 

Orientierungssatz

1. Im Falle von wechselseitigen Tätlichkeiten (hier: einer Schlägerei) muss sich das Gericht für die Bejahung eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG davon überzeugen können, dass Anspruchsteller zuerst ungerechtfertigt angegriffen worden und der vorsätzliche tätliche Angriff gegen ihn nicht nach § 32 StGB gerechtfertigt gewesen ist.

2. Widersprechen sich die Angaben der Beteiligten zu einer Auseinandersetzung gegenseitig, müssen die Angaben des Anspruchstellers glaubhafter sein als die der anderen (hier verneint wegen fehlender Aussagekonsistenz und Widersprüchlichkeiten in den Aussagen des Antragstellers).

3. Eine Klage, mit welcher der Kläger ausschließlich die Anerkennung einer Gewalttat nach dem OEG verfolgt, ist unzulässig (vgl BSG vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R = BSGE 118, 63 = SozR 4-3800 § 1 Nr 21).

4. Gerade bei kurzfristig vor dem Termin gestellten Anträgen auf Terminverlegung bestehen hohe Anforderungen an die Glaubhaftmachung der Verhandlungsunfähigkeit (vgl BSG vom 28.9.2018 - B 9 V 22/18 B).

5. Ein anwaltlich vertretene Beteiligter hat keinen Anspruch darauf, neben seinem Anwalt in der mündlichen Verhandlung gehört zu werden (vgl BSG vom 8.12.2020 - B 1 KR 58/19 B und vom 22.9.1999 - B 5 RJ 22/98 R).

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 31.01.2022; Aktenzeichen B 9 V 44/21 B)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 27. Januar 2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt nach dem Gesetz über die Entschädigung von Opfern von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG) die Verurteilung des Beklagten zur Anerkennung einer Gewalttat nach dem OEG und die Gewährung einer Beschädigtengrundrente, hilfsweise die Feststellung von Schädigungsfolgen.

Er ist 1974 im K geboren, hat dort die Schule mit dem Abitur abgeschlossen, jedoch aufgrund des K-Krieges keine Berufsausbildung absolviert. Im Jahr 1993 reiste er in das Bundesgebiet ein. Er war bei verschiedenen Zeitarbeitsfirmen beschäftigt und war ab 2015 arbeitslos. Derzeit übt er eine abhängige Beschäftigung in einem Betrieb aus, der Werkzeuge und technische Teile herstellt. Er ist verheiratet und Vater von vier minderjährigen Kindern. Seine Ehefrau arbeitet als Aushilfskraft in einem chinesischen Restaurant. Ergänzend wird Wohngeld bezogen. Am 6. Dezember 2010 ist der Kläger wegen Diebstahls einer geringfügigen Sache vom Amtsgericht (AG) Tettnang zu einer Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu je 15 Euro verurteilt worden (vgl. AG T., Urteil vom 8. Mai 2015 - 4 Ds 36 Js 7004/14 - und Protokoll vom 23. April 2015).

Am 20. Juni 2017 beantragte der Kläger beim Landratsamt Bodenseekreis (LRA) die Gewährung von Leistungen nach dem OEG. Er machte als Gesundheitsstörungen, wegen denen der Antrag gestellt werde, Schnittwunden am Schädel, am Hals und am Ohr, einen Nasenbeinbruch und eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) geltend. Diese Gesundheitsstörungen führte er auf das schädigende Ereignis am 29. Januar 2014 zurück, zu dem er ausführte:

„Antrag wegen versuchten Mordes von Frau A, Herr I, Frau I1

Am 29.01.2014 Nachts um 21:30 Uhr haben mich Frau A, Herr I und seine Frau versucht mich umzubringen. Dazu haben sie noch meine Minderjährige Tochter im Auto eingesperrt. Sie ist die Täterin weil sie uns Angegriffen hat Nachts. Am 30.01.2014 haben wir Frau A und ihre Kinder nicht gesehen. Alles was Frau A am 30.01.2014 gemacht hat, hat sie mit ihrem Schwager Herr I gemacht. Die Leute Draußen haben das gesehen. Und ihr Mann hat auch bestätigt das sie das selbst mit Herrn I gemacht ha...

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