Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. tätlicher Angriff. Rechtswidrigkeit. früheres Züchtigungsrecht von Erziehungsberechtigten. Bestrafungen in einer Kinderheilstätte zwischen 1965 und 1966. Ohrfeigen. festes Zupacken. Fixieren ans Bett

 

Leitsatz (amtlich)

Für einen Anspruch nach dem OEG müssen die konkreten Taten benannt und zeitlich eingeordnet werden.

Für die Beurteilung der Rechtswidrigkeit körperlicher Züchtigungen von Kindern kommt es auf das zum Tatzeitpunkt geltende Recht an. Wiederholte Bestrafungen durch Ohrfeigen oder festes Am-Arm-Packen um ein Kind zum Essen oder zur ärztlich verordneten Ruhe anzuhalten, erfüllten bis zur Abschaffung des körperlichen Züchtigungsrechts nicht den Tatbestand. Gleiches gilt für eine Fixierung mittels Gurt im Bett, da es dabei nicht um Freiheitsberaubung, sondern medizinisch indizierte Ruhebehandlung bei Tuberkulose ging.

 

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 9. Mai 2012 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind der Klägerin in beiden Instanzen nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Feststellung von (Ent-)Schädigungstatbeständen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

Die 1959 geborene Klägerin war wegen einer Tuberkuloseerkrankung vom 7. Oktober 1965 bis 7. Oktober 1966 stationär in der Kinderheilstätte in W., einer von der katholischen Diözese R. gegründeten und zu diesem Zeitpunkt unter der Leitung der Gemeinschaft der Franziskanerinnen S. stehenden Lungenfachklinik auf Veranlassung des Hausarztes Dr. K. untergebracht. Bereits am 12.05.1964 war bei positiver Tuberkulinprobe Tbc bei der Klägerin diagnostiziert worden, die zu diesem Zeitpunkt bei einer Größe von 105 cm 16,7 kg wog (Bl. 65 Beiakten). Ausweislich des Entlassungsberichts wog die bei Aufnahme 110 cm große und 17,3 kg schwere Klägerin bei Entlassung 21,5 kg bei einer Größe von 114 cm. Der Hausbesuch am 11. November 1966 ergab, dass die Mutter mit dem Gesundheitszustand der Klägerin zufrieden sei, sie weiterhin regelmäßig die ihr verordneten Medikamente einnehme und jeden Mittag ihre Liegekur einhalte. Vom 5. Juli bis 9. September 1967 befand sich die Klägerin zum Wiederholungsheilverfahren erneut in der Kinderheilstätte W. Bei Aufnahme wurde festgestellt, dass die 6 ¾ Jahre alte Klägerin mit einer Größe von 118 cm und einem Gewicht von 21,1 kg zwar immer noch eine erhebliche Unterlänge habe, der Ernährungszustand aber ausreichend sei (vgl. Entlassungsbericht, Bl. 86 Beiakten). In den Folgejahren wurde die Klägerin regelmäßig bis 1985 dem Staatlichen Gesundheitsamt, Tuberkulose-Fürsorge, des Landkreises R. vorgestellt und festgestellt, dass sich die Klägerin sehr wohl fühle und keinerlei Beschwerden bestünden. (vgl. Untersuchungsbogen, Bl. 88 ff. Beiakten).

Im Rahmen eines Schwerbehindertenverfahrens wies die Klägerin mit Schreiben vom 4. Juni 2010 auf seelische Schäden hin, die im Zusammenhang mit einer Lungenkrankheit stünden. Im Antragsformular auf Gewährung von Beschädigtenversorgung gab die Klägerin am 13. Juni 2010 an, sie leide an Schlafstörungen, Albträumen, Atemnot, Herzrasen, Angst vor kleinen oder geschlossenen Räumen, Panik bei Gedränge und Menschenansammlungen sowie Berührungsängsten nach der Behandlung in der Kinderheilstätte. Dort sei sie geschlagen und geohrfeigt worden, habe mit dem Gesicht zur Wand in der Ecke stehen und im Flur schlafen, ein bis zwei Stunden unter Aufsicht auf einer Ruheliege stramm liegen und Speisen, die sie nicht gemocht habe, mit einer Extra-Portion essen müssen. Die essbaren Besuchsgeschenke ihrer Eltern seien an andere Patienten verteilt worden. Der einjährige Krankenhausaufenthalt verfolge sie noch heute.

Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes hat der Beklagte zunächst das über die Klägerin geführte Leistungsverzeichnis bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse - die Gesundheitskasse N. - beigezogen und die Beauftragte der Kongregation der Franziskanerinnen S. e. V. für sexuellen Missbrauch und Misshandlung befragt. Die Beauftragte Frau M. hat mitgeteilt, dass sie die Schilderungen der Klägerin als glaubhaft erlebt habe. Weitere Fälle von der Lungenheilstätte W. seien bislang nicht bekannt, auch lägen Schilderungen von Ordensschwestern aus der damaligen Zeit nicht vor.

Mit Bescheid vom 17. August 2010 lehnte der Beklagte den Antrag auf Gewährung von Beschädigtenversorgung mit der Begründung ab, der Nachweis, dass die Klägerin in der Kinderheilstätte W. gequält oder grob misshandelt bzw. böswillig vernachlässigt worden sei, könne nicht als erbracht angesehen werden. Fest umrissene aktive und passive Misshandlungen durch die Ordensschwestern seien nach Aktenlage nicht nachweisbar.

Mit ihrem dagegen eingelegten Widerspruch machte die Klägerin geltend, ihre damalige Krankenakte sei bereits vernichtet worden. Es sei eine Frechheit an ihrer Glaubwürdigkeit zu zweifeln. Es sei noch kein Fall bekannt geworden, in dem der Täter in einer Krankenakte üb...

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