Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht: Opferentschädigung wegen Gewalt in der Ehe. Voraussetzung des Ausschlusses eines Entschädigungsanspruchs wegen leichtfertigen Verhaltens durch Verbleiben in einer Gewaltbeziehung
Orientierungssatz
Auch im Falle des Verbleibens einer Ehefrau in einer von Gewalt durch den Ehemann geprägten Beziehung scheidet jedenfalls dann die Anwendung der Entschädigungsregeln aus dem Opferentschädigungsgesetz für erlittene Schäden nicht aus, wenn sich die betroffene Ehefrau schutzsuchend an öffentliche Stellen gewandt hatte (hier: Polizei und Jugendamt), von diesen Stellen jedoch keine Unterstützung gewährt wurde. Denn insoweit fehlt es an einem die Entschädigungsansprüche ausschließenden leichtfertigen Verhaltens des Opfers.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 13. März 2008 geändert. Der Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 4. Oktober 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. November 2005 verpflichtet festzustellen, dass die posttraumatische Gonarthrose und der Zustand nach Operation am linken Kniegelenk bei Ruptur des vorderen Kreuz- und Innenbandes Folge des tätlichen Angriffs vom August 1992 sind und kein Versagungsgrund nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Opferentschädigungsgesetz besteht.
Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens in vollem Umfang zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist ein Anspruch der 1964 geborenen Klägerin auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen einer im August 1992 erlittenen schweren Körperverletzung durch ihren damaligen Ehemann.
In der 1986 zwischen der Klägerin und ihrem Ehemann geschlossenen und zwischenzeitlich geschiedenen Ehe, aus der zwei 1986 und 1988 geborene Töchter hervorgingen, kam es seit dem Jahr 1990 zu zahlreichen Körperverletzungen seitens des Ehemannes sowohl gegenüber der Klägerin als auch gegenüber den Töchtern. Als der Ehemann die Klägerin im August 1992 in der ehelichen Wohnung schlug und ihr grundlos von hinten in die linke Kniekehle trat, erlitt die Klägerin eine Ruptur des Kreuzbandes, die operativ behandelt werden musste und zu einer dauerhaften Beeinträchtigung des Gehvermögens führte. Die körperlichen Übergriffe des Ehemannes hielten auch in der Folgezeit an und wurden erst im Februar 1994 durch die Flucht der Klägerin mit den Kindern in ein Frauenhaus beendet.
Mit Urteil des Landgerichts Berlin vom 28. Oktober 1998 (521 KLs 80/97) wurde der Ehemann unter anderem auch wegen der gegen die Klägerin gerichtete Tat vom August 1992 wegen schwerer Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Mit Bescheid vom 1. April 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. März 2000 lehnte der Beklagte eine von der Klägerin aufgrund der im August 1992 erlittenen Körperverletzung beantragte Entschädigung nach dem OEG ab. Die hiergegen am 6. Mai 2005 unter dem Az. S 41 VG 35/05 zum Sozialgericht Berlin erhobenen Klage nahm die Klägerin zurück.
Das Versorgungsamt erkannte der Klägerin mit Bescheid vom 26. Mai 2006 unter Zugrundelegung von Funktionsbeeinträchtigungen durch Depression, posttraumatische Belastungsstörung sowie funktionelle Kniegelenksbeschwerden links einen Grad der Behinderung von 60 sowie die Merkzeichen “G„ (erhebliche Gehbehinderung) und “B„ (Notwendigkeit ständiger Begleitung bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel) zu.
Mit Bescheid vom 4. Oktober 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. November 2005 lehnte der Beklagte einen erneuten Antrag der Klägerin vom 12. Dezember 2004 auf Entschädigungsleistungen nach dem OEG aufgrund der Gewalttaten des Ehemannes in den Jahren von 1990 bis 1994 unter Verweis auf das Vorliegen des Versagungsgrundes der Unbilligkeit gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 zweite Alternative OEG ab. Die Klägerin sei, statt eine Trennung vorzunehmen, immer wieder in den ehelichen Haushalt zurückgekehrt und habe die Gefahr erneuter körperlicher Angriffe billigend in Kauf genommen. Bei einem Mindestmaß an Selbstverantwortung hätte sich die Klägerin anders verhalten können und müssen.
Mit der dagegen am 2. Dezember 2005 zum Sozialgericht Berlin erhobenen Klage verfolgte die Klägerin ihr Begehren gerichtet auf Feststellung, dass sie wegen der Folgen der Körperverletzung vom August 1992 nach dem OEG versorgungsberechtigt ist und ein Ausschlussgrund nach § 2 Abs. 1 OEG nicht vorliegt, weiter. Zur Begründung verwies sie darauf, keine Zufluchtsmöglichkeiten gesehen zu haben. Die Existenz von Frauenhäusern sei ihr vor Februar 1994 nicht bekannt gewesen. Zudem habe ihr Ehemann sie immer eingeschlossen oder eine der beiden Töchter mit sich genommen, so dass sie die eheliche Wohnung gemeinsam mit den Töchtern nicht habe verlassen können. Weder von der Polizei noch vom Jugendamt sei ihr geholfen worden. Ferner habe sie es dem Ehemann ...