Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen G. erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr. Verstärkung der orthopädischen Einschränkungen durch psychogenen Schwankschwindel. Regelfälle der Versorgungsmedizinischen Grundsätze nicht abschließend. mindestens sechsmonatige Fortdauer der Beeinträchtigung
Orientierungssatz
1. Nach § 146 Abs 1 S 1 SGB 9 ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Die sich auf das Gehvermögen auswirkenden Funktionsbeeinträchtigungen müssen hierzu einen GdB von 50 erreichen.
2. Zu berücksichtigen sind dabei nicht ausschließlich orthopädische Einschränkungen des Gehvermögens, sondern auch psychogene Gangstörungen. Zu letzteren zählt ua ein psychogen verursachter, behinderungsbedingter Schwankschwindel. Führt dieser in Verbindung mit den orthopädischen Einschränkungen dazu, dass der Betroffene ohne fremde Begleitung keine nennenswerten Wege unter ortsüblichen Bedingungen mehr zurücklegen kann, und sind diese Funktionseinschränkungen insgesamt mit einem GdB von 50 zu bewerten, so ist dem Betroffenen das Merkzeichen G zuzuerkennen.
3. Die in Teil D Nr 1 Buchst e und Teil D Nr 1 Buchst f der Anlage zu § 2 VersMedV beschriebenen Regelfälle sind nicht abschließend, sondern dienen als Vergleichsmaßstab. Besteht die psychogene Gangstörung bereits seit längerer Zeit und ist nicht damit zu rechnen, dass dieser Zustand innerhalb der nächsten sechs Monate voraussichtlich beendet werden könnte, so besteht Anspruch auf Erteilung des Merkzeichens G.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. Februar 2012 geändert.
Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 13. Juli 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08. Juli 2008 in der Fassung des Bescheides vom 07. Dezember 2009 und des Bescheides vom 22. Dezember 2010 verpflichtet, bei der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G ab dem 01. August 2009 festzustellen.
Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens in vollem Umfang zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Zuerkennung der Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs G.
Mit Bescheid vom 13. Juli 2007 stellte der Beklagte bei der Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von weniger als 20 fest, mit Widerspruchsbescheid vom 08. Juli 2008 erkannte der Beklagte einen GdB von 40 zu. Die Zuerkennung des Merkzeichens G wurde jeweils abgelehnt. Während des anschließenden Verfahrens vor dem Sozialgericht Berlin hat der Beklagte durch Bescheid vom 07. Dezember 2009 einen GdB in Höhe von 50 für die Zeit ab August 2009 und schließlich durch Bescheid vom 22. Dezember 2010 einen GdB in Höhe von 60 ab Oktober 2010 festgestellt, die Voraussetzungen des Merkzeichens G jedoch jeweils abgelehnt.
Aufgrund richterlicher Beweisanordnung hat am 27. April 2010 der Facharzt für Orthopädie Dr. W ein medizinisches Sachverständigengutachten erstattet. Darin ist er zu der Einschätzung gelangt, bei der Klägerin bestehe eine Funktionsbehinderung der Hals- und Lendenwirbelsäule, die mit einem GdB von 30 zu bemessen sei, Depressionen (ebenfalls GdB von 30) und Funktionsbehinderungen beider Kniegelenke (GdB 20). Auf die Gehfähigkeit der Klägerin wirkten sich die Kniegelenksarthrosen beidseits und in geringem Maß die Abnutzungserscheinungen der unteren Lendenwirbelsäule aus. Es liege weder eine orthopädische Problematik, ein Herzschaden, eine Atembehinderung noch eine chronische Insuffizienz/hirnorganisches Anfallsleiden vor, welches die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen könnte. Jedoch solle eine weitere fachärztliche Abklärung hinsichtlich des Schwindels erfolgen.
Ebenfalls aufgrund richterlicher Beweisanordnung hat sodann am 20. Juni 2011 die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie und Psychotherapie Dr. P ein weiteres medizinisches Sachverständigengutachten erstattet. Darin ist sie ebenfalls zu der Einschätzung gelangt, die Gehfähigkeit der Klägerin sei nicht erheblich beeinträchtigt. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 19. Dezember 2011 hat die Sachverständige an ihrer Einschätzung festgehalten.
Durch Urteil vom 17. Februar 2012 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen: Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G lägen nicht vor. Der mobilitätsbedingte Grad der Behinderung sei zu niedrig. Es könne auch keine Gleichstellung etwa mit hirnorganischen Anfällen erfolgen, zumal der Schwindel nicht organisch, sondern wohl rein psychisch bedingt sei.
Gegen dieses ihr am 25. Februar 2012 zugestellte Urteil hat die Klägerin fristgemäß Berufung zum Landessozialgericht eingelegt. Sie hält die Voraussetzungen des Merkzeichens G weiterhin ...