Entscheidungsstichwort (Thema)
Zuerkennung des Merkzeichens "G" wegen einer psychogenen Gangstörung. Gesamt-GdB. Einschränkung des Gehvermögens. Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab
Orientierungssatz
1. Nach § 145 Abs. 1 S. 1 SGB 9 haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Diese Voraussetzungen sind bei einem Schwerbehinderten erfüllt, der infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
2. Ein psychogen verursachter, behinderungsbedingter Schwankschwindel stellt eine psychogene Gangstörung dar. Führt diese dazu, dass der Schwerbehinderte ohne fremde Begleitung keine nennenswerten Wege unter ortsüblichen Bedingungen zurücklegen kann, so ist damit insgesamt dessen Gehvermögen im Rechtssinn erheblich beeinträchtigt, mit der Folge, dass ihm das Merkzeichen "G" zuzuerkennen ist.
Normenkette
SGB IX § 69 Abs. 1, 4, § 145 Abs. 1 S. 1, § 146 Abs. 1 S. 1, § 2 Abs. 1; BVG § 30; SGB X § 45 Abs. 1
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 12. April 2012 und der Bescheid des Beklagten vom 1. September 2010 aufgehoben sowie der Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 22. Januar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Oktober 2008 verpflichtet, bei der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens “G„ mit Wirkung ab 5. November 2007 festzustellen.
Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klageverfahrens zur Hälfte und des Berufungsverfahrens im vollen Umfang zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) und über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).
Bei der 1950 geborenen Klägerin war 2006 ein Gesamt-GdB von 30 festgestellt worden. Auf deren Verschlimmerungsantrag vom 5. November 2007 stellte der Beklagte nach Auswertung der vorliegenden ärztlichen Unterlagen mit Bescheid vom 22. Januar 2008 bei ihr einen GdB von 40 fest, wobei er von folgenden Funktionsbeeinträchtigungen ausging:
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entzündlich-rheumatische Gelenkerkrankung, psychosomatische Störungen (Einzel-GdB von 30), |
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Magenerkrankung (Einzel-GdB von 10). |
Auf den Widerspruch der Klägerin, mit dem sie auch die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen “G„ und “aG„ begehrte, setzte der Beklagte nach erneuten Ermittlungen und auf der Grundlage des versorgungsärztlichen Hinweises, die Internistin Dr. M habe in ihrem Befundbericht vom 13. Juni 2007 von einer Nephrektomie links berichtet, mit Widerspruchsbescheid vom 8. Oktober 2008 den Gesamt-GdB auf 50 ab Antragstellung herauf, lehnte aber die Zuerkennung des beantragten Merkzeichen ab. Dem legte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
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Exostose-Syndrom, entzündlich-rheumatische Gelenkerkrankung, psychosomatische Störungen (Einzel-GdB von 40), |
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Verlust einer Niere (Einzel-GdB von 30), |
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Magenerkrankung (Einzel-GdB von 10). |
Mit ihrer Klage bei dem Sozialgericht Potsdam hat die Klägerin zunächst einen Gesamt-GdB von 80 und das Merkzeichen “G„ begehrt.
Nach Anhörung der Klägerin hat der Beklagte mit Bescheid vom 1. September 2010 den Widerspruchsbescheid vom 8. Oktober 2008 insoweit zurückgenommen, als ein Gesamt-GdB von 50 festgestellt wurde. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass der Gesamt-GdB lediglich 40 betrage, da die Beeinträchtigung “Verlust einer Niere„ nicht vorliege. Tatsächlich sei eine Nierentumor-Exzision links durchgeführt worden, wobei die Niere erhalten geblieben sei. Ein schutzwürdiges Interesse der Klägerin in den Bestand des Bescheides sei unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an der Rücknahme nicht zu erkennen. Es liege im öffentlichen Interesse, ungerechtfertigte Aufwendungen zu vermeiden.
Die Klägerin hat daraufhin ihr Klagebegehren auf die Aufhebung des Rücknahmebescheides vom 1. September 2010 und die Zuerkennung des Merkzeichens “G„ gerichtet.
Das Sozialgericht hat das Gutachten des Internisten Prof. Dr. Dr. S vom 17. September 2011 eingeholt, der bei der Klägerin eine schwere somatoforme Schmerzstörung diagnostiziert hat. Der Gesamt-GdB betrage 40.
Ferner hat das Sozialgericht das Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Prof. Dr. P vom 4. Januar 2012 eingeholt, der den Gesamt-GdB mit 50 eingeschätzt hat. Neben die somatoforme Schmerzstörung mit einem Einzel-GdB von 40 trete ein phobischer Schwankschwindel, der einen Einzel-GdB von 20 und die Zuerkennung des Merkzeichens “G„ bedinge.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 12. April 2012 abgewiesen: Der Beklagte habe den Gesamt-GdB zu Recht auf 40 herabgesetzt. D...