Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen G. erhebliche Gehbehinderung. Versorgungsmedizinische Grundsätze. Regelbeispiele. GdB von 30 für Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen. Wechselwirkung mit anderen Erkrankungen. überwiegende psychische Störung. Angst. Depression. Zurücklegen einer Wegstrecke von 2 km in 30 Minuten als entscheidender Beurteilungsmaßstab. Bewältigung von 40 Metern in einer Minute nicht ausreichend

 

Leitsatz (amtlich)

Die Voraussetzungen des gesundheitlichen Merkzeichens G können auch erfüllt sein, wenn zwar die auf die Gehfähigkeit sich auswirkenden Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen keinen Teil-GdB von mindestens 40 bedingen, aber aufgrund einer negativen Wechselwirkung von orthopädischen, internistischen und neurologischen Erkrankungen die Gehfähigkeit derart limitiert wird, dass eine Gehstrecke von 2 km nicht mehr innerhalb einer halben Stunde zurückgelegt werden kann.

Bei beiden in Teil D Nr 1 d der Versorgungsmedizinischen Grundsätze aufgeführten Merkmalen handelt es sich lediglich um Regelbeispiele, die keinesfalls eine abschließende Aufzählung darstellen.

 

Orientierungssatz

1. Benötigt der behinderte Mensch mithilfe eines Rollators und gegebenenfalls mit Sitzpausen für eine Gehstrecke von 40 Metern etwa eine Minute Zeit, kann davon ausgegangen werden, dass er iS des § 229 Abs 1 S 1 SGB 9 2018 Wegstrecken im Ortsverkehr, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden, nicht zurückzulegen vermag.

2. Die Feststellung, dass die Gehstörung überwiegend durch psychischen Störungen (Angst, Depression) bedingt ist, führt nicht dazu, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung des Merkzeichens G von vornherein verneint werden müssen.

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts für das Saarland vom 06.07.2016 sowie der Bescheid des Beklagten vom 13.06.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.10.2014 abgeändert.

Der Beklagte wird verurteilt, bei der Klägerin einen Gesamt-GdB von 80 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des gesundheitlichen Merkzeichens „G" ab dem 21.09.2017 festzustellen.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin ein Drittel der außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) der Klägerin sowie darüber, ob die Voraussetzungen zur Anerkennung der Voraussetzungen des gesundheitlichen Merkzeichens „G“ (= erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) erfüllt sind.

Die 1945 geborene Klägerin stellte am 20.12.1991 erstmals einen Antrag auf Anerkennung einer Behinderung nach dem damals noch geltenden Schwerbehindertengesetz (SchwbG), auf den hin der Beklagte mit Bescheid vom 12.06.1992 einen GdB von 50 feststellte.

Auf einen Verschlimmerungsantrag vom 26.11.1999 wurde mit Bescheid vom 21.06.2000 der GdB auf 60 erhöht; ein Verschlimmerungsantrag vom 19.04.2004 blieb erfolglos.

Am 17.12.2012 stellte die Klägerin wiederum einen Verschlimmerungsantrag.

Nach Beiziehung von Befundberichten der behandelnden Ärzte und Einholung zweier versorgungsärztlicher Stellungnahmen erhöhte der Beklagte mit Bescheid vom 13.06.2013 den GdB auf 70.

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin Widerspruch ein, der nach Einholung einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme (vom 18.07.2014) mit Widerspruchsbescheid vom 22.10.2014 als unbegründet zurückgewiesen wurde.

Gegen den Widerspruchsbescheid hat die Klägerin am 20.11.2014 Klage erhoben. Als Klageziel hat sie die Anerkennung eines Gesamt-GdB von 100 und der gesundheitlichen Merkzeichen „G“ und „RF“ angegeben.

Das Sozialgericht für das Saarland (SG) hat von Amts wegen Beweis erhoben durch Einholung eines fachorthopädisch-unfallchirurgischen Gutachtens von Dr. A. Z. (erstattet am 21.06.2015) sowie eines nervenfachärztlichen Gutachtens von Dr. N. E. (erstattet am 05.10.2015) nebst ergänzender Stellungnahme (vom 04.01.2016). Der Beklagte hat drei Stellungnahmen seines ärztlichen Dienstes eingereicht (vom 23.03.2015, 12.06.2015 und 04.01.2016).

Der Sachverständige Dr. Z. hat auf der Grundlage einer ambulanten Untersuchung (vom 15.06.2015) folgende Erkrankungen auf orthopädisch-chirurgischem Gebiet festgestellt und mit folgenden Einzel-GdB bewertet:

1.

Fortgeschrittenes degeneratives LWS-Syndrom mit endgradigem Funktionsdefizit

mit Schmerzchronifizierung ohne Radikulärsymptomatik, degeneratives HWS-Syndrom mit endgradigem Funktionsdefizit

30

2.

Gonalgie beidseits bei Meniscopathie, Knick-Senk-Spreizfuß mit Hallux-valgus-Bildung beidseits

10

Er hat den Gesamt-GdB unter Einbeziehung sämtlicher Behinderungen auf 70 eingeschätzt und weiter ausgeführt, die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Gewährung des Merkzeichens „G“ seien gegeben. Außerhalb der Gutachtensituation habe das Gangbild bzw. die Beweglichkeit im Straßenverkehr gesichtet werden können. Der Klägerin sei es ...

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