Gesundheitsmanagement bei chronischen Erkrankungen
Beschäftigte mit chronischen Erkrankungen nehmen mit einem Drittel einen nicht unerheblichen Teil der Erwerbstätigenbevölkerung ein. In einer älter werdenden Gesellschaft mit weiter steigendem Renteneintrittsalter werden die chronischen Erkrankungen im Arbeitsleben eine noch größere Relevanz erhalten, da die Prävalenz im höheren Lebensalter zunimmt. Für Unternehmen ist das Augenmerk auf diese Personengruppe daher von besonderer betriebswirtschaftlicher Relevanz.
Was heißt chronisch krank?
Für den Begriff der chronischen Erkrankungen liegt bis heute keine einheitliche Definition vor. Dennoch existieren Merkmale, die chronische von akuten Erkrankungen unterscheiden. Zentrale Eigenschaften stellen das zeitliche Ausmaß, der Verlauf der Erkrankung und ihre Folgen dar. Als häufigste chronische Erkrankungen gelten Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebserkrankungen, Erkrankungen des Bewegungsapparates, chronische Atemwegserkrankungen und psychische Erkrankungen. Viele chronische Erkrankungen sind nicht sichtbar. Dementsprechend stehen Betroffene häufig vor dem Entscheidungskonflikt, die Erkrankung am Arbeitsplatz offenzulegen oder nicht (siehe dazu den Softwaretipp unten zu Hintergrundwissen).
Aufgrund fehlender eindeutiger gesetzlicher Regelungen sowie fehlendem Wissen über bestehende Strukturen und Rechte mangelt es vielen Beschäftigten mit chronischen Erkrankungen an notwendiger Unterstützung im Arbeitsleben. Demzufolge geht die Krankheitsdiagnose oft einher mit Veränderungen in der Erwerbsbiografie. Es können Zusammenhänge zwischen chronischen Erkrankungen und dem Wechsel in ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis, Phasen der Arbeitslosigkeit, Bezug von Erwerbsminderungsrenten und Verringerung der Arbeitszeit aufgezeigt werden. Chronische Erkrankungen stellen insofern ein ernstzunehmendes Erwerbs- und Einkommensrisiko dar.
Chronische Erkrankung: Personalverantwortliche als Gatekeeper
Personalverantwortliche und Führungskräfte haben eine Gatekeeper-Rolle für das Verbleiben beziehungsweise die Wiedereingliederung von Mitarbeitenden mit chronischen Erkrankungen am Arbeitsplatz, insbesondere in kleinen und mittleren Unternehmen. Da Strukturen und Prozesse hier meist wenig standardisiert sind und auch häufig Kapazitäten fehlen, die sich beispielsweise über das betriebliche Gesundheitsmanagement speziell dieses Themas annehmen können, sind die Verantwortlichkeiten hier stärker im Führungs- und Personalwesen zentralisiert.
Führungskräfte sind oft die Ersten im Unternehmen, die mit den Herausforderungen und Barrieren der erkrankten Person am Arbeitsplatz in Berührung kommen und als Ansprechpersonen fungieren. Doch trotz der zentralen Position von Personalverantwortlichen und Führungskräften wurde deren Perspektive auf Beschäftigte mit chronischen Erkrankungen bislang meist nur unzureichend betrachtet.
Hintergrundwissen chronische ErkrankungenBegriffsdefinition: Im Gegensatz zur Schwerbehinderung ist chronische Erkrankung kein rechtssicherer Begriff. Nach der Definition der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gilt nicht jede chronische Erkrankung als Behinderung und nicht jede Behinderung als chronische Erkrankung. Je nach Teilhabeeinschränkung, kann eine chronische Erkrankung zu einer Behinderung – und demnach auch einem anerkannten Grad der Behinderung – führen. Gleichberechtigte Teilhabe: Rechtsgrundlage für eine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit (Schwer-) Behinderung ist das SGB IX. Auch wenn für Menschen mit chronischen Erkrankungen die Rechtslage weniger eindeutig ist, fallen sie in der Regel in den Anwendungsbereich des SGB IX. Keine Offenlegungspflicht: Grundsätzlich muss eine chronische Erkrankung – genauso wie eine Behinderung, Schwerbehinderung oder Gleichstellung – bei der Arbeit nicht offengelegt werden. Eine Ausnahme besteht, wenn während der Arbeitszeit gesundheitliche Symptome auftreten, die zur Selbst- oder Fremdgefährdung führen könnten. Softwaretipp: Inwiefern eine Offenlegung oder Teiloffenlegung der Erkrankung gegenüber Arbeitgebenden sinnvoll ist oder nicht, wird von vielen verschiedenen Faktoren bestimmt. Eine gute Hilfestellung im Entscheidungsprozess kann das Softwaretool www.sag-ichs.de bieten. |
Erfolgskritische Stellschrauben für die Einbindung chronisch Kranker in den Betrieb
Um dieser bestehenden Forschungslücke entgegenzuwirken und die notwendigen Stellschrauben für eine für alle Seiten gewinnbringende Einbindung chronisch kranker Beschäftigter in den Betrieben herauszufinden, wurden im Rahmen des durch den BKK Dachverband geförderten Projektes "Chronisch erkrankte Menschen in der Arbeitswelt" ( www.chronma.de) Personalexperten und -expertinnen befragt. In leitfadengestützten Interviews mit 16 Personalverantwortlichen und Führungskräften aus mittelständischen Unternehmen unterschiedlicher Branchen wurden interne und externe Ressourcen, Herausforderungen sowie Verbesserungspotenziale im Umgang mit Mitarbeitenden mit chronischen Erkrankungen erörtert.
Auf dieser Basis konnten zentrale, HR-relevante Aspekte für den Umgang mit Mitarbeitenden mit chronischen Erkrankungen abgeleitet werden. Da die Bewertung der Umsetzbarkeit in den einzelnen Unternehmen variiert, wurden diese Aspekte durch verschiedene Befragte teilweise als entscheidende Ressource, teilweise auch als starke Herausforderung beschrieben. Übereinstimmend werden die Aspekte aber als erfolgskritische Stellschrauben für den Stay at Work und Return to Work identifiziert.
Stellschraube eins: Arbeitsgestaltung
Die Arbeitsgestaltung lässt sich entsprechend der Merkmalsbereiche psychischer Belastungen in vier Subaspekte untergliedern: die Arbeitsaufgabe, die Arbeitsorganisation, soziale Beziehungen sowie die Arbeitsumgebung. Im Folgenden wird nur auf die Aspekte Arbeitsaufgabe und Arbeitsorganisation näher eingegangen, auch wenn alle Bereiche Unterstützungsmöglichkeiten bieten.
Im Bereich der Arbeitsaufgabe zeigt sich, dass der Stay at Work und Return to Work von Beschäftigten mit chronischen Erkrankungen einerseits durch Umverteilungen beziehungsweise Anpassung von Aufgaben im gleichen Tätigkeitsfeld unterstützt werden kann. Gerade in Bereichen mit viel körperlicher Arbeit empfehlen die Befragten, die Arbeit so zu gestalten, dass die anstrengenden Tätigkeiten auch hin und wieder beispielsweise durch Arbeit am PC unterbrochen werden kann. Auch wenn sich hier Potenziale ergeben – die vermutlich nicht immer auf den ersten Blick erkannt werden – gilt zu beachten, dass eine Umverteilung beziehungsweise Anpassung von Arbeitsaufgaben nicht in allen Tätigkeitsbereichen möglich ist, da dies zu einer Überbeanspruchung der Kollegen und Kolleginnen führen kann.
Versetzungen – bestenfalls inklusive Umschulung – in andere Tätigkeitsfelder eignen sich ebenfalls, damit Mitarbeitende mit chronischen Erkrankungen bedarfsgerecht (weiter-)beschäftigt werden können. Auch wenn Personalverantwortliche und Führungskräfte die Möglichkeiten hier als begrenzt erachten, da nicht ausreichend passende Stellen zur Verfügung stehen, ist dies ein Aspekt, der zu prüfen ist, um Mitarbeitende mit chronischen Erkrankungen in Arbeit zu halten oder reinkludieren zu können.
Im Bereich der Arbeitsorganisation reichen die Ausgestaltungsmöglichkeiten zur Unterstützung von Mitarbeitenden mit chronischen Erkrankungen von der Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort über Arbeitszeitreduktionen und Digitalisierung von Prozessen bis hin zu Auszeiten durch Sonderurlaub oder Sabbaticals. Allerdings zeigen sich je nach Berufsfeld und Rahmenbedingungen die Flexibilisierungsmöglichkeiten in der Arbeitsorganisation eingeschränkt.
Stellschraube zwei: Individualisierung und Mitarbeitendenzentrierung
Um den Bedarfen von Beschäftigten mit chronischen Erkrankungen begegnen zu können, werden selten Regelprozesse herangezogen. Vielmehr beschreiben die befragten Experten und Expertinnen die Individualisierung von Prozessen und Problemlösungen als weitere Stellschraube. Statt als fester Prozess sollte die Arbeitsaufgabe individuell, abhängig von der Schwere der Erkrankung und der Einschränkungen gestaltet werden. Eine bedarfsgerechte Lösung ist in der Regel mit einem erhöhten Ressourcenaufwand verbunden. Nichtsdestotrotz wird eine Lernkurve erkannt, wonach mit zunehmender Erfahrung das intendierte Ziel ressourcenschonender erreicht werden kann.
Auch bei Regelprozessen wie dem betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) wird die Mitarbeitendenzentrierung von den Interviewpartnern als Erfolgsfaktor beschrieben. Letztlich geht darum, den Mitarbeitenden zu zeigen, dass die Arbeitsplatzerhaltung höchste Priorität hat und Gespräche nicht als Vorstufe der personenbedingten Kündigung geführt werden. Um den BEM-Prozess bedarfsgerecht zu gestalten, ist eine abgestimmte Zusammenarbeit zwischen allen relevanten internen und externen Akteuren hilfreich.
Neben Personalerinnen, Personalern und Führungskräften können, je nach Verfügbarkeit im Unternehmen, insbesondere der betriebsärztliche Dienst, Arbeitsschutzakteure, der Betriebsrat, die Schwerbehindertenvertretung (SBV), Inklusionsbeauftragte, das betriebliche Gesundheitsmanagement und die Beauftragten für das betriebliche Eingliederungsmanagement zielführend in BEM-Prozesse und auch Prozesse zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit integriert werden. Bei den externen Akteurinnen und Akteuren sind insbesondere die regionalen Inklusionsämter und Integrationsfachdienste sowie die zuständigen Rehabilitationsträger (i.d.R. Agentur für Arbeit, Krankenversicherung, Rentenversicherung oder Unfallversicherung) erste Kooperationsstellen für den Erhalt und die Wiedereingliederung von Beschäftigten.
Stellschraube drei: Offene Kommunikationskultur
Als entscheidend identifizierten die Befragten auch die Art und Weise des Umgangs mit Erkrankungen am Arbeitsplatz. Ein höheres Maß an unternehmensweiter Offenheit gegenüber dem Thema Gesundheit und Krankheit kann helfen, Beschäftigte mit chronischen Erkrankungen adäquater zu unterstützen. Hierbei geht es einerseits darum, dass Mitarbeitende offen ihre Bedarfe ansprechen. Andererseits – um dies erst möglich zu machen – geht es auch darum, dass das Unternehmen die Thematik mehr in den Vordergrund hebt und so ein Stück weit normalisiert.
Empathie und Offenheit in der Kommunikation zeigten sich in den Interviews als wichtige Aspekte im Umgang mit chronisch Erkrankten, eine Tabuisierung des Themas als Barriere. In einer wertschätzenden Kultur wird Interesse gezeigt und sich nach dem Wohlergehen erkundigt, unabhängig davon, ob eine Diagnose bekannt ist oder nicht. In diesem Kontext werden auch Vertrauen, Bedarfs- und Lösungsorientierung sowie ein respektvoller Umgang als wichtige Bausteine beschrieben. Für eine von Offenheit und Empathie geprägte Unternehmenskultur ist die Kontinuität und Regelmäßigkeit der Kommunikation und Begleitung entscheidend, keinesfalls sollte das Interesse auf ein oder zwei Gespräche bezogen bleiben. Insgesamt zeigen sich die Veränderungswege im Bereich Kommunikation als gemeinschaftliche Geschichte, bei der Unternehmensführung wie auch Beschäftigte vertrauensvoll zusammenarbeiten.
Inklusive Unternehmensstrukturen für eine gesundheitsgerechte Arbeitswelt
Als Fazit zeigt sich: Es gibt verschiedene Stellschrauben, die dem Stay at Work und Return to Work von Beschäftigten mit chronischen Erkrankungen zuträglich sind. Diese liegen insbesondere im Bereich Arbeitsgestaltung, der Individualisierung von Prozessen sowie einer offenen Kommunikationskultur. Der erste Schritt zur Unterstützung von Beschäftigten mit chronischen Erkrankungen ist die Sensibilisierung von Personalerinnen, Personalern und Führungskräften für das Thema chronische Erkrankungen. Durch Netzwerke von internen und externen Akteuren können die Verantwortlichen Unterstützung erhalten und Verantwortungen teilen. Maßnahmen, die für Beschäftigte mit chronischen Erkrankungen hilfreich sind, verhelfen zu inklusiveren Unternehmensstrukturen, die allen Mitarbeitenden mit ihren individuellen Stärken und Schwächen nützen und letztlich zu einer gesundheitsgerechteren Arbeit führen.
Dieser Beitrag ist erschienen in Personalmagazin Ausgabe 3/2023. Lesen Sie das gesamte Heft auch in der Personalmagazin-App.
Zu den Autorinnen:
Henrike Schmitz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Arbeit und berufliche Rehabilitation, Universität zu Köln.
Hannah Siegert arbeitete als wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Arbeit und berufliche Rehabilitation, Universität zu Köln.
Prof. Dr. Mathilde Niehaus ist Lehrstuhlinhaberin des Lehrstuhls für Arbeit und berufliche Rehabilitation, Universität zu Köln.
Die Literaturquellen zum Text erhalten Sie bei den Autorinnen.
Das könnte Sie auch interessieren:
Ablauf und Struktur des betrieblichen Eingliederungsmanagements
Psychische Erkrankungen und BGM
BAG-Urteil: Jahresurlaub darf auch bei längerer Krankheit nicht einfach verfallen
-
Workation und Homeoffice im Ausland: Was Arbeitgeber beachten müssen
1.993
-
Essenszuschuss als steuerfreier Benefit
1.713
-
Vorlage: Leitfaden für das Mitarbeitergespräch
1.500
-
Ablauf und Struktur des betrieblichen Eingliederungsmanagements
1.276
-
Probezeitgespräche als Feedbackquelle für den Onboarding-Prozess
1.249
-
Krankschreibung per Telefon nun dauerhaft möglich
1.129
-
BEM ist Pflicht des Arbeitgebers
1.031
-
Checkliste: Das sollten Sie bei der Vorbereitung eines Mitarbeitergesprächs beachten
709
-
Das sind die 25 größten Anbieter für HR-Software
514
-
Modelle der Viertagewoche: Was Unternehmen beachten sollten
390
-
Tipp der Woche: Mehr Inklusion durch KI
19.12.2024
-
Gleichstellung in Europa verbessert sich nur langsam
16.12.2024
-
Fünf Tipps für effektive Recruiting-Kampagnen zum Jahresstart
13.12.2024
-
Eine neue Krankenkasse als Zeichen der Fürsorge
11.12.2024
-
Wie Personalarbeit wirtschaftlichen Erfolg beeinflusst
10.12.2024
-
1.000 neue Fachkräfte für den Glasfaserausbau
09.12.2024
-
KI für eine inklusive Arbeitswelt
06.12.2024
-
Weihnachtsgeld: Wer bekommt wie viel?
05.12.2024
-
Mit Corporate Volunteering Ehrenamt ins Unternehmen bringen
05.12.2024
-
Die Angst vor KI lässt nach
05.12.2024