Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewaltopferentschädigung. Contergangeschädigter. vorsätzlicher rechtswidriger Angriff: Fehlen der unmittelbaren feindlichen Ausrichtung. keine mittelbare Schädigung gem § 1 Abs 2 OEG
Orientierungssatz
Allein die Produktion und der Vertrieb des Medikaments Contergan erfüllen nicht den Tatbestand des § 1 Abs 1 OEG. Auch wenn sich durch das Inverkehrbringen des möglicherweise nicht in ausreichenden Versuchen und Studien getesteten Medikaments Contergan bzw des Wirkstoffs Thalidomid eine Gefahrenlage für die das Medikament einnehmenden Personen verwirklicht hat, so fehlt es doch an der unmittelbaren feindlichen Ausrichtung gegen diesen Personenkreis bzw der Leibesfrucht, der das Medikament einnehmenden Mutter.
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 01.10.2009 wird zurückgewiesen.
Gründe
I.
Die 1961 in München geborene Klägerin beansprucht im Klageverfahren als Geschädigte des von dem Stolberger Pharmaunternehmen Grünenthal GmbH entwickelt und in Vertrieb gebrachten Schlaf- und Beruhigungsmittel "Contergan" Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetzt (OEG).
Sie gehört zu den nach Angaben der Conterganstiftung für behinderte Menschen (www.conterganstiftung.de) etwa 5.000 Personen umfassenden Gruppe von Kindern, deren Mütter während der Schwangerschaft das von der Grünenthal GmbH vertriebene thalidomidhaltige Schlafmittel "Contergan" eingenommen hatten und die Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre mit schweren Fehlbildungen ihrer Gliedmaßen und anderen Körperschäden zur Welt gekommen sind. Nach den heutigen Erkenntnissen ist Contergan für die Fehlbildung der damals neugeborenen Kinder sowie für zahlreiche Fehlgeburten verantwortlich. Die Klägerin bezieht nach ihren Angaben im Antrag Conterganrente nach dem Gesetz über die Einrichtung einer Stiftung "Hilfswerk für behinderte Kinder" (seit Oktober 2005 Conterganstiftung für behinderte Menschen, ContStiftG, BGBl I, 2018, zuletzt geändert durch Gesetz vom 25.06.2009, BGBl I S 1534) sowie den Richtlinien für die Gewährung von Leistungen wegen Contergan-Schadensfällen vom 30.06.2009 (BAnz Nr 96, S 2313).
Wegen der strafrechtlichen Verantwortung der Produktion bzw. des Vertriebs von "Contergan" eröffnete die 1. Große Strafkammer des Landgerichts (LG) Aachen im Jahr 1968 gegen Heinrich Mückter (gestorben 1987) und weitere verantwortliche Mitarbeiter der Grünenthal GmbH das unter dem Az.: 1 KMs 1/68 geführte Hauptverfahren. Mit Beschluss vom 18.12.1970 stellte die Kammer nach 283 Verhandlungstagen und umfangreicher Beweisaufnahme mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft das Verfahren nach § 153c Strafprozessordnung (StPO in der damals geltenden Fassung) ein. Das Sozialgericht (SG) hat den Einstellungsbeschlusses beigezogen und den Beteiligten in Ablichtung zur Verfügung gestellt. Danach ist die Große Strafkammer entgegen der von verschiedenen Sachverständigen zum Ausdruck gebrachten Zweifel davon ausgegangen, dass Thalidomid generell geeignet sei, die körperlichen Missbildungen zu verursachen. Eine vorsätzliche Gesetzesverletzung der Angeklagten sei, auch was den Bereich der Missbildungen betreffe, nicht erwiesen. Ein Gelingen dieses Nachweises sei auch bei Fortsetzung der Hauptverhandlung nicht wahrscheinlich, zumal sämtliche gehörten Wissenschaftler die Vorhersehbarkeit der Missbildungen mehr oder weniger eindeutig verneint hätten. Mit Einschränkungen könne den Angeklagten der Vorwurf fahrlässig strafbaren Verhaltens gemacht werden. Wegen der Ausführungen der großen Strafkammer im Einzelnen nimmt der Senat auf den Einstellungsbeschluss Bezug. Die Klägerin beantragte im März 2009 Leistungen nach dem OEG wegen ihrer Contergan-Schädigung. Dies lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 28.04.2009, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 12.05.2009 ab.
Im anschließenden Klageverfahren hat die Klägerin, auch zur Begründung des vorliegenden Antrags auf Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) ausgeführt, die Voraussetzungen eines Angriffs im Sinne des § 1 Abs 1 S 1 OEG, wie auch diejenigen der Sondervorschrift des § 1 Abs 2 Nr 2 OEG seien erfüllt. Die Voraussetzung des tätlichen Angriffs könne auch durch Unterlassung erfüllt werden, wobei sich vorliegend eine Garantenstellung der Firma Grünenthal GmbH aus Ingerenz ergebe. Es sei davon auszugehen, dass zumindest der seinerzeitige wissenschaftliche Direktor und Chefchemiker der Firma, Dr. Mückter, um die Gefährlichkeit seines Tuns gewusst habe, denn dieser sei während des zweiten Weltkriegs Stabsarzt und stellvertretender Direktor des Instituts für Fleckfieber- und Virusforschung gewesen und habe als solcher für medizinische Experimente KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter als Versuchspersonen missbraucht. Er habe sich mit Experimenten ausgekannt. Auch sei die Gefahr für Leib und Leben der Klägerin mit gemeingefährlichen Mitteln hervorgerufen worden. Die Rechtsprechung des BSG sei zu eng, wenn eine feindliche Aktion ohne Rücksicht auf den Erfolg gefordert werde. Der Zusatz ...