Entscheidungsstichwort (Thema)

Überlanges Gerichtsverfahren. unangemessene Verfahrensdauer. Entschädigungsklage. Erbengemeinschaft. kein eigener Entschädigungsbetrag für jedes Mitglied. Gesamthandsanspruch. Beschränkung der Entschädigungsklage auf eine Instanz. materiell-rechtlicher Bezugsrahmen der Gesamtverfahrensdauer. Angemessenheitsprüfung. wertende Gesamtbetrachtung. hälftige Anrechnung der nicht verbrauchten Vorbereitungs- und Bedenkzeit der Vorinstanz. Ermittlung der Inaktivitätszeiten. Schriftsatzweiterleitung. Erwartung ergänzenden Vortrags. erweiterter Stellungnahmemonat von 6 Wochen. Ladung zur mündlichen Verhandlung. Abwarten des Gerichts auf Zustellnachweise für Übertragungsbeschluss. sozialgerichtliches Verfahren. Klagefrist. Anhängigkeit. Rechtshängigkeit. Existenz und Bezeichnung eines Verfahrenbeteiligten. doppelrelevante Tatsache. Begründetheitsprüfung

 

Orientierungssatz

1. Erstreitet eine Erbengemeinschaft eine Entschädigung wegen überlanger Dauer eines sozialgerichtlichen Verfahrens nach § 198 GVG, erhält nicht jedes Mitglied der Erbengemeinschaft einen eigenen, aus der Überlänge des Verfahrens abgeleiteten Entschädigungsbetrag. Der Entschädigungsbetrag steht der Erbengemeinschaft vielmehr lediglich einmal zur gesamten Hand zu, wenn nur die Erbengemeinschaft am Ausgangsverfahren beteiligt gewesen ist.

2. Keine Gesamthandsgemeinschaft besteht dagegen bei Entschädigungsansprüchen mehrerer in einem Verfahren klagender Angehöriger einer Bedarfsgemeinschaft gemäß § 7 Abs 3 SGB 2, die von vornherein eigene Ansprüche verfolgen und dementsprechend auch individuelle Entschädigungsansprüche gemäß § 198 Abs 1 S 1 GVG haben können.

3. "Kläger" im Sinne von § 69 Nr 1 GVG und damit Beteiligter im Sinne von § 198 Abs 6 Nr 2 GVG ist, wer in der Klage- bzw Berufungsschrift als solcher bezeichnet wird (Ausnahme: subjektive Klagehäufung während des Verfahrens). Auf die Beteiligtenbezeichnung in Instanz beendenden Entscheidungen kommt es dagegen nicht an.

4. Sind die für das Vorliegen der Erbengemeinschaft maßgeblichen Tatsachen sowohl für die Zulässigkeit als auch für die Begründetheit der Klage erheblich (doppelrelevante Tatsachen), sind diese grundsätzlich erst bei der Prüfung der Begründetheit festzustellen (vgl BSG vom 25.1.2001 - B 4 RA 64/99 R = SozR 3-1500 § 54 Nr 45).

5. Zwar kann der Entschädigungskläger (hier: die Erbengemeinschaft) seine Klage zulässigerweise auf eine Instanz des Ausgangsverfahrens beschränken (vgl BSG vom 27.3.2020 - B 10 ÜG 4/19 R = SozR 4-1720 § 198 Nr 19). Materiell-rechtlicher Bezugsrahmen eines derart beschränkten Begehrens bleibt gleichwohl das gesamte gerichtliche Verfahren (vgl BVerwG vom 27.2.2014 - 5 C 1/13 D = Buchholz 300 § 198 GVG Nr 3; vgl auch BSG vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R = BSGE 117, 21 = SozR 4-1720 § 198 Nr 3).

6. Insoweit hält der Senat aber nur eine Anrechnung der Hälfte der vom Sozialgericht im Ausgangsverfahren nicht verbrauchten Vorbereitungs- und Bedenkzeit von zwölf Monaten für angemessen. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass das Berufungsgericht die Verfahrensführung des Vordergerichts kennt und auf erstinstanzlich aufgelaufene Verzögerungen ggf durch beschleunigte Verfahrensförderung reagieren kann, weshalb die volle Anrechnung der verbleibenden Vorbereitungs- und Bedenkzeit nicht interessengerecht erscheint.

7. Eine Übersendung eines Schriftsatzes an den Verfahrensgegner rechtfertigt ein Abwarten in einem zeitlichen Umfang von sechs Wochen, wenn das Gericht davon ausgehen durfte, dass der Gegner die Übersendung zum Anlass nimmt, ergänzend vorzutragen ("erweiterter Stellungnahmemonat").

8. Es liegt keine inaktive Zeit seitens des Gerichts vor, wenn es nach seinem praktizierten Vorgehen mit der Ladung zum Verhandlungstermin abwartet, bis die erforderlichen Zustellnachweise eines zuvor ergangenen Beschlusses (hier: zur Übertragung auf den Einzelrichter nach § 153 Abs 5 SGG) aktenkundig sind.

9. Für die Einhaltung der Klagefrist nach § 198 Abs 5 S 1 GVG reicht es aus, wenn die Entschädigungsklage innerhalb der Frist beim Entschädigungsgericht anhängig geworden ist. Auf den Zeitpunkt der Rechtshängigkeit der Klage (gemäß § 94 S 2 SGG durch Zustellung beim Beklagten) kommt es dagegen nicht an (vgl BSG vom 17.12.2020 - B 10 ÜG 1/19 R = BSGE 131, 153 = SozR 4-1720 § 198 Nr 20).

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 16.01.2023; Aktenzeichen B 10 ÜG 7/22 B)

 

Tenor

Das beklagte Land wird verurteilt, den Klägern zu 1) bis 4) zur gesamten Hand eine Entschädigung von 1.300 Euro zuzüglich Prozesszinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 23. Mai 2020 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits tragen das beklagte Land zu 14% und die Kläger gesamtschuldnerisch zu 86%.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert für das Klageverfahren wird auf 9.600,00 Euro festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Klägerinnen und der Kläger (im Folgenden: Kläger) begehren Entschädigung wegen Staatshaftung nach § 198 Gerichtsverfassun...

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