Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopferentschädigung. Stalking. tätlicher Angriff nur bezogen auf einzelne Tätlichkeit. Kausalität. sozialgerichtliches Verfahren. Nichtberücksichtigung von weiteren Taten aus anderen Lebenssachverhalten
Leitsatz (amtlich)
Stalkinghandlungen, die nicht unmittelbar auf die körperliche Integrität abzielen (wie zB Nachstellen, Telefonate, Briefe, Karten, Geschenke) und die daher dem sog milden Stalking zuzurechnen sind, werden durch das OEG nicht erfasst. Sofern es einmalig zu einem tätlichen Angriff gekommen ist (hier: Schlagen des Handys aus der Hand und Ausreißen von Kopfhaaren im Rahmen einer tätlichen Auseinandersetzung) ist zu prüfen, ob die bestehende psychische Erkrankung auf diese Tat zurückzuführen ist. Eine darüber hinausgehende Prüfung der Gesamtumstände des Stalkings ist unzulässig. Auch im Klageverfahren erstmals vorgetragene weitere Taten, die möglicherweise Ansprüche nach dem OEG begründen könnten, dürfen nicht einbezogen werden.
Orientierungssatz
Zum Leitsatz vgl BSG vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R = BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18.
Normenkette
OEG § 1 Abs. 1 S. 1; BVG § 31 Abs. 1; StGB § 238
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Die am ... 1978 geborene Klägerin beantragte am 23. Mai 2007 die Gewährung von Beschädigtenversorgung und machte geltend, durch Stalking psychisch stark beeinträchtigt zu sein. Sie habe eine instabile Persönlichkeitsstörung, mittelschwere Depressionen, Schlafstörungen, leide an Panikattacken, Unruhezuständen und Angst. Herr M., ihr ehemaliger Lebenspartner und Vater eines ihrer Kinder, stelle ihr und den Kindern nach, belästige sie, spioniere sie und das soziale Umfeld aus, schreibe täglich Liebeserklärungen, entwende gelegentlich Post aus dem Briefkasten, beobachte sie und versuche mit allen Tricks in die Familie einzudringen. Sie habe gegen Herrn M. bereits Strafanzeigen gestellt.
Der Beklagte hat die betreffenden Strafakten beigezogen. Am 16. September 2003 ist ein Strafbefehl gegen Herrn M. wegen Körperverletzung ergangen, weil er die Klägerin am 26. Juni 2003 in der gemeinsamen Wohnung mehrfach mit der Faust in das Gesicht geschlagen und mit dem Knie gegen die linke Rippenseite getreten hatte. Dadurch hatte die Klägerin eine Prellung des rechten Schultergelenkes, des rechten Oberarms, des Brustkorbs sowie des Schädels erlitten. Mit Beschluss des Amtsgerichts B. vom 26. Februar 2007 ist gegen Herrn M. Ordnungshaft für die Dauer von zwei Monaten verhängt worden, weil er gegen das Verbot, der Klägerin nachzustellen, bestimmte Orte aufzusuchen und mit Fernkommunikationsmitteln Kontakt aufzunehmen, verstoßen hatte. Er hatte in der Nacht vom 6. auf den 7. Februar 2007 die Wohnung der Klägerin aufgesucht und permanent die Türklingel betätigt. In der Zeit vom 14. September bis 4. November 2006 hatte er 40 SMS-Nachrichten mit beleidigendem Inhalt sowie 2 MMS mit der Darstellung von Genitalien beiderlei Geschlechts an sie gesandt. Am 4. November 2006 war er ihr beim Verlassen der Wohnung gefolgt. Außerdem hatte er 37 Briefe geschrieben und sich mehrfach vor dem Wohnhaus aufgehalten, obwohl er sich diesem in einem Umkreis von 500 Meter nicht hätte nähern dürfen. In den strafrechtlichen Akten findet sich außerdem das Protokoll der Strafanzeige vom 24. November 2007. Danach habe Herr M. der Klägerin an diesem Tag ihr Handy im Rahmen einer verbalen Auseinandersetzung aus der Hand gerissen, während sie die Polizei alarmiert habe. In der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht B. am 30. Juni 2008 hatte sie zu diesem Vorfall ergänzend ausgeführt, dass Herr M. ihr dabei auch einige Haare ausgerissen habe. Herr M. war an diesem Tag wegen Nachstellung und Bedrohung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt worden.
Nach einem Telefonvermerk des Beklagten über ein Gespräch mit der Mutter der Klägerin vom 29. Januar 2008 befinde sich die Klägerin nicht in psychotherapeutischer Behandlung, da sie erst den Abschluss der Gerichtsverfahren habe abwarten wollen. Der Beklagte holte schließlich den Entlassungsbericht der Klinik H. L. O. vom 10. März 2009 ein, wonach bei der Klägerin ein psychophysischer Erschöpfungszustand, ein zerebrales Anfallsleiden, Asthma Bronchiale, Psoriasis und eine Adipositas per Magna bestanden hätten. Trotz extensiver Bemühungen habe sich der Zustand aufgrund mangelnder Compliance nicht bessern können.
Mit Bescheid vom 16. Juli 2009 lehnte der Beklagte den Antrag auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG ab und führte zur Begründung aus: Die Handlungen des Herrn M. fielen zwar unter den Straftatbestand des Stalking. Da es bei diesen Handlungen zu keinem tätlichen Übergriff gekommen sei, stelle dieses gewaltfreie Stalking aber keinen entschädigungspflichtigen Tatbestand des OEG dar. Es fehle an der für ein...