Leitsatz (amtlich)

1. Zur Kausalitätsprüfung in einem Geburtsschadensfall (hier: schwere hirnorganische Schädigung des Feten aufgrund einer massiven Sauerstoffunterversorgung, weil der Geburtshelfer grob pflichtwidrig auf alarmierende und in der Schlussphase durchgehend hochpathologische Befunde der CTG-Aufzeichnungen bis zur Entbindung nicht bzw. nicht angemessen reagiert hatte), wenn sich die Arztseite unter dem Gesichtspunkt des sog. rechtmäßigen Alternativverhaltens darauf beruft, dass auch bei Durchführung der versäumten Not-Sectio - somit noch vor dem Ablauf der hypothetischen E-E-Zeit von bis zu 20 Minuten - eine ins Gewicht fallende Vorschädigung des Feten (im Sinn einer abgrenzbaren Teilkausalität) eingetreten wäre.

2. Zu den Anforderungen an den der Arztseite hierbei obliegenden Nachweis einer substantiellen Vorschädigung, die nicht von der Einstandspflicht des Geburtshelfers umfasst ist.

3. Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes in einem solchen Fall entspricht es nicht den methodischen Anforderungen an die gebotene Gesamtschau, wenn sich die tragende Begründung des Tatrichters in der Aussage erschöpft, dass eine "schwerste Behinderung" vorliege und demzufolge eine "Zerstörung der Persönlichkeit" gegeben sei.

Denn innerhalb der Kategorie von schweren und schwersten Geburtsschäden gibt es die hinreichend abgrenzbare Konstellation einer extremen ("maximalen") Schädigung, die den typologischen Stellenwert einer eigenständigen Fallgruppe hat. Die tatrichterliche Bemessung des zuerkannten Schmerzensgeldes muss deshalb insbesondere erkennen lassen, dass bei der Gewichtung der Schadensfaktoren ein sorgfältiger Abgleich mit denjenigen konstitutiven Schadensanlagen stattgefunden hat, welche die besondere Fallgruppe einer extremen bzw. "allerschwersten" Schädigung in der Regel kennzeichnen.

4. Weist die Situation des geschädigten Kindes signifikante Unterschiede zur typischen Sachverhaltsgestaltung eines extremen Schadensfalls aus, so hat sich dieser Umstand grundsätzlich auch in einer entsprechenden - deutlichen - Ermäßigung des immateriellen Ausgleichs gegenüber den in der einschlägigen Judikatur der Oberlandesgerichte zugebilligten Schmerzensgeldbeträgen in einer Größenordnung von 500.000,00 EUR (und darüber) niederzuschlagen (Abgrenzung zu OLG Hamm VersR 2004, 386 Rn. 7, 61 ff.; OLG Brandenburg VersR 2004, 199, Rn. 3, 4 und 44; OLG Jena VersR 2009, 1676, Rn. 6).

5. Zur Einordnung des Umstandes bei der Schmerzensgeldbemessung, dass sich das geschädigte Kind mit fortschreitendem Alter in zunehmendem Maße schmerzlich bewusst wird, dass und mit welcher Ausschließlichkeit es durch seine schweren Behinderungen von den Entfaltungsmöglichkeiten "normal" entwickelter Kinder abgeschnitten ist.

 

Normenkette

BGB §§ 253, 847

 

Verfahrensgang

LG Hof (Urteil vom 03.02.2015; Aktenzeichen 15 O 18/10)

 

Tenor

I. Die Berufung des Beklagten gegen das Endurteil des LG Hof vom 03.02.2015 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass das vom LG in Ziff. I. der Entscheidungsformel ausgeurteilte Schmerzensgeld auf 350.000,00 Euro zuzüglich Prozesszinsen seit dem 18.02.2011 ermäßigt wird.

II. Von den Kosten des Rechtsstreits in erster Instanz tragen die Klägerin 1/5 und der Beklagte 4/5.

Von den Kosten des Berufungsverfahrens entfallen auf die Klägerin 1/10 und auf den Beklagten 9/10.

III. Das Senatsurteil sowie die Entscheidung des LG sind jeweils ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte kann jeweils die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, sofern nicht zuvor die Klägerseite Sicherheit in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages geleistet hat.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

V. Berufungsstreitwert: 600.000,00 Euro.

 

Gründe

I. Die Klägerin macht gegen den Beklagten, einen niedergelassenen Frauenarzt und Belegarzt, Ansprüche auf materiellen und immateriellen Schadensersatz wegen fehlerhafter Behandlung im Zusammenhang mit ihrer Geburt am xx. xx. 2006 im Klinikum A. (fortan nur: Klinikum oder Krankenhaus) geltend.

Die Mutter der Klägerin (künftig nur: Mutter) war am xx. xx. 2006 gegen 23:50 Uhr im Klinikum aufgenommen worden. Nachdem die durchgehenden CTG-Aufzeichnungen bereits seit 0:44 Uhr phasenweise einen - zum Teil extremen - Abfall der fetalen Herztöne registriert hatten, war der - als diensthabender Belegarzt verständigte - Beklagte um 1:10 Uhr im Kreißsaal eingetroffen. Auch in der Folgezeit wiesen die CTG-Aufzeichnungen - zunächst in vorübergehenden Intervallen, dann ab 2:00 Uhr ununterbrochen - auffällige bis (hoch-)pathologische Werte aus. Nachdem die Mutter gegen 2:30 Uhr eine Zangenentbindung abgelehnt hatte, war die Klägerin (spätestens) um 2:46 Uhr vaginal entbunden worden. In der Folgezeit wurden bei ihr in zunehmendem Umfang schwerste und bleibende Gesundheitsschäden infolge einer tiefgreifenden Hirnschädigung erkennbar.

Nach dem Vorbringen der Klägerseite sind diese Gesundheitsschäden und die - insoweit unstreitig - daraus erwa...

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