Entscheidungsstichwort (Thema)

Anwendbarkeit von § 852 BGB nach dem Erwerb eines vom sog. Dieselskandal betroffenen Neufahrzeugs von einem Händler.

 

Leitsatz (amtlich)

Bei einem Neuwagenkauf von einem Autohändler hat der Fahrzeughersteller, der im Rahmen einer von ihm bei der Motorenentwicklung getroffenen strategischen Entscheidung, die Typgenehmigungen der Fahrzeuge durch arglistige Täuschung des Kraftfahrtbundesamts zu erschleichen und die derart bemakelten Fahrzeuge alsdann in Verkehr zu bringen, die Arglosigkeit und das Vertrauen der Fahrzeugkäufer gezielt ausnutzt, auf Kosten des Fahrzeugkäufers den Kaufpreis abzüglich einer Händlermarge im Sinne von § 852 Satz 1 BGB erlangt.

 

Normenkette

BGB § 826

 

Verfahrensgang

LG Stade (Urteil vom 03.12.2020; Aktenzeichen 3 O 134/20)

 

Nachgehend

BGH (Urteil vom 07.11.2022; Aktenzeichen VIa ZR 589/21)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen das Urteil des Einzelrichters der 3. Zivilkammer des Landgerichts Stade vom 3. Dezember 2020 geändert.

Die Beklagte hat an den Kläger 18.006,98 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 21. August 2020 Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs Volkswagen Passat Variant Highline BMT 2.0 TDI (FIN: ...) sowie weitere 1.171,67 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 21. August 2020 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten erster Instanz werden gegeneinander aufgehoben. Von den Kosten der Berufungsinstanz trägt der Kläger 1/4, die Beklagte *.

Dieses Urteil ist ebenso wie das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn der Kläger nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird zugelassen.

 

Gründe

I. Der Kläger erwarb am 11. Juni 2012 von einem Autohändler einen von der Beklagten hergestellten neuen VW Passat Variant Highline BMT 2.0 TDI mit einer Laufleistung von 14 km zu einem Kaufpreis von 41.339,43 EUR. Der Händler leitete den Kaufpreis abzüglich seiner Marge in Höhe von 15% an die Beklagte weiter. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat betrug die Laufleistung 141.109 km.

Das Fahrzeug war mit einem Dieselmotor der Beklagten des Typs EA 189 EU 5 ausgestattet, der eine Software zur Abgassteuerung enthält. Diese Software verfügt über zwei Betriebsmodi. Im "Modus 1", der beim Durchfahren des für die amtliche Bestimmung der Fahrzeugemissionen maßgeblichen Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) automatisch aktiviert wird, kommt es zu einer höheren Abgasrückführungsrate, wodurch die gesetzlich geforderten Grenzwerte für Stickoxidemissionen eingehalten werden. Bei im normalen Straßenverkehr anzutreffenden Fahrbedingungen ist der "Modus 0" aktiviert, der zu einer geringeren Abgasrückführungsrate und damit zu einem höheren Stickoxidausstoß führt. Das Kraftfahrtbundesamt verfügte mit Bescheid vom 15. Oktober 2015 gegenüber der Beklagten, zur Gewährleistung der Vorschriftsmäßigkeit der Typgenehmigung des Motors EA189 EU5 die unzulässige Abschalteinrichtung zu entfernen, und drohte damit, andernfalls die Typgenehmigung ganz oder teilweise zu widerrufen oder zurückzunehmen. Zugleich wurde die Beklagte verpflichtet, den technischen Nachweis zu führen, dass nach Entfernen der als unzulässig eingestuften Abschalteinrichtung alle technischen Anforderungen erfüllt werden. Mit Schreiben vom 20. Juni 2016 bestätigte das KBA der Beklagten, dass die von ihr entwickelten technischen Maßnahmen (Softwareupdate) geeignet sind, die Vorschriftsmäßigkeit herzustellen.

Die Beklagte informierte hierüber die breite Öffentlichkeit in Form von Pressemitteilungen ab Ende September 2015, insbesondere mittels einer Ad-hoc-Mitteilung vom 22. September 2015. Auch durch das Kraftfahrtbundesamt wurde die Öffentlichkeit informiert. Zeitgleich war der sogenannte Dieselskandal Gegenstand einer sehr umfassenden Presseberichterstattung. Die Beklagte informierte die Halter mit Schreiben vom Februar 2016 darüber, dass "der in seinem Fahrzeug eingebaute Dieselmotor mit einer Software ausgestattet sei, durch die die Stickoxidwerte (NOx) im Vergleich zwischen Prüfstand (NEFZ) und realem Fahrbetrieb verschlechtert würden" sowie über die Entwicklung und den weiteren Zeitplan für die konkrete Zurverfügungstellung des Updates.

Das Landgericht, auf dessen Urteil wegen der näheren Einzelheiten des Sachverhalts, der tatsächlichen Feststellungen und der Entscheidungsgründe verwiesen wird, hat die Beklagte verurteilt, an den Kläger 22.976,28 EUR (unter Zugrundelegung einer erwarteten Gesamtlaufleistung von 300.000km) nebst Zinsen ab Rechtshängigkeit Zug-um-Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs sowie 1.358,86 EUR an vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten nebst Zinsen zu zahlen. Weiter hat es d...

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