Leitsatz (amtlich)
1. In der Teilnahme eines Beifahrers an einer Autofahrt trotz erkennbarer Trunkenheit des Fahrers liegt ein Verstoß gegen die eigenen Interessen. Wer zu einem erkennbar angetrunkenen Fahrer als Beifahrer ins Auto steigt, muss sich regelmäßig ein erhebliches Mitverschulden (§ 254 BGB) für einen etwaigen Schadenseintritt anrechnen lassen.
2. Im Rahmen der Abwägung der Haftungsanteile wird den Fahrer regelmäßig ein höherer Haftungsanteil als den Beifahrer treffen (hier: 60: 40 zum Nachteil des Fahrers).
3. Die Beweislast für die Erkennbarkeit der Alkoholisierung liegt grundsätzlich beim Schädiger.
4. Aufgrund des erheblichen Alkoholisierungsgrades des Fahrers (hier: über 1,5g o/oo) und der übrigen unstreitigen oder bewiesenen Umstände (hier: gemeinsamer Besuch eines Dorffestes und einer Diskothek mit Alkoholkonsum von Fahrer und Beifahrer in geselliger Runde) kann ein Beweis des ersten Anscheins dafür bestehen, dass der Beifahrer die massive Alkoholisierung des Fahrers vor Fahrtantritt erkannt hat, jedenfalls bei Einhaltung der gebotenen Sorgfalt im eigenen Interesse ohne weiteres hätte erkennen müssen.
Normenkette
BGB §§ 254, 404, 412
Verfahrensgang
LG Hannover (Urteil vom 13.04.2011; Aktenzeichen 12 O 16/08) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Einzelrichters der 12. Zivilkammer des LG Hannover vom 13.4.2011 unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels teilweise abgeändert und insgesamt neu gefasst wie folgt:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 3.673,71 EUR nebst Zinsen i.H.v. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15.12.2007 zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin weitere 523,10 EUR nebst Zinsen i.H.v. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15.2.2008 zu zahlen.
3. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, an die Klägerin 60 % der weiteren übergangsfähigen Schadensersatzansprüche aus dem Unfallereignis vom 27.8.1995, bei dem ihr Versicherter, Herr H. W., geb. am 1.2.1954, erheblich verletzt wurde, zu ersetzen hat, soweit sie gem. §§ 116, 119 SGB X auf die Klägerin übergegangen sind.
4. Die Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen tragen die Beklagte zu 60 % und die Klägerin zu 40 %.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
(gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO):
I. Die Klägerin nimmt als Sozialversicherungsträgerin die beklagte Haftpflichtversicherung gem. § 116 SGB X aus übergegangenem Recht aus einem Verkehrsunfall vom 27.8.1995 auf Erstattung von Rehabilitationskosten in Anspruch, die die Klägerin für das bei ihr versicherte und bei dem Verkehrsunfall verletzte Mitglied H. W. aufgewendet hat. Der Versicherungsnehmer der Klägerin befand sich bei dem Verkehrsunfall gegen 01:30 Uhr als Beifahrer in dem von dem Zeugen H. G. gefahrenen Pkw, der bei der Beklagten versichert war. Bei dem Unfall kam das von dem Zeugen G. geführte Fahrzeug von der Fahrbahn ab, streifte einen Baum und fuhr danach in einen Graben. Mehrere Stunden nach dem Verkehrsunfall wurde bei dem Fahrer G. noch eine Blutalkoholkonzentration von 1,51g o/oo festgestellt. Der Beifahrer W. wurde bei dem Unfall schwer verletzt.
Die Parteien streiten darüber, inwieweit dem Verletzten ein Mitverschulden anzulasten ist, weil er sich in den von dem alkoholisierten Fahrer G. gesteuerten Pkw begeben hat und dort als Beifahrer mitgefahren ist. Unstreitig waren der Zeuge G. sowie der Versicherte W. vor dem Verkehrsunfall zunächst auf einem Dorffest, beim dem alkoholische Getränke genossen wurden, und im Anschluss in einer Diskothek in Augsburg, in der ebenfalls Alkohol konsumiert wurde. Die Beklagte beruft sich auf ein erhebliches Mitverschulden des Beifahrers.
Die Kammer hat aufgrund des Beweisbeschlusses vom 5.11.2008 den Fahrer des verunfallten Pkw, H. G., als Zeugen vernommen, außerdem den Verletzten W. selbst. Der Zeuge G. hat bekundet, in der Diskothek "richtig hart" - sog. "Limesgetränke" - getrunken zu haben: "Ich war durch den Alkohol seinerzeit einfach enthemmt. Irgendwann war es mir dann auch einfach egal". Während des Trinkens sei der Zeuge W. "die ganze Zeit neben mir" gewesen. Der Zeuge G. hat ferner bekundet, der Verletzte W. hätte eigentlich mitbekommen müssen, dass er - Zeuge G. - nicht mehr fahrtüchtig gewesen sei: "Eigentlich müsste es ihm aufgefallen sein". Allerdings sei "auch Herr W. ziemlich betrunken" gewesen. Man sei jedoch für die Rückfahrt "davon ausgegangen, dass auf der geplanten Nebenstrecke keine Polizei stehe". Der Zeuge W. hat bekundet, ihm sei klar gewesen, dass auf dem Dorffest, das vor der Disko besucht wurde, "getrunken werden würde". Auch er will dann bei dem anschließenden Besuch der Diskothek "schon ziemlich angetörnt" gewesen sein, er hatte "ja auch auf dem Fest schon einiges getrunken". Auf den Zeugen G. habe er aber nicht näher geachtet; er könne "ausdrücklich verneinen", die ganze Zeit direkt neben Herrn G. gestanden zu haben, obwohl sie "natürlich die ganze Zei...