Leitsatz (amtlich)
1. Eisenbahn- und Eisenbahninfrastrukturunternehmen bilden grundsätzlich eine Haftungs- und Zurechnungseinheit.
2. Es führt zu einer Erhöhung der Betriebsgefahr seitens dieser Haftungs- und Zurechnungseinheit, wenn das bestehende Sicherungssystem der Fernüberwachung - vorliegend unstreitig - nicht dahingehend ausgelegt ist, den einfahrenden Triebfahrzeugführer direkt vor einem Hindernis auf dem Bahnübergang zu warnen, sondern wenn ihn diese Warnung aufgrund der bestehenden Informationskette - in der Regel - zu spät erreicht.
3. Es ist nicht grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Fahrer, der auf einem gesicherten Bahnübergang mit einer Eisenbahn zusammenstößt, grob fahrlässig gehandelt hat. Die Beurteilung, ob die Fahrlässigkeit als einfach oder grob zu werten ist, ist Sache der tatrichterlichen Würdigung im Einzelfall.
Normenkette
BGB §§ 823, 831; HPflG § 13; StVG §§ 7, 17-18; StVO § 12 Abs. 1 Nr. 4, § 19
Verfahrensgang
LG Stade (Entscheidung vom 14.02.2020; Aktenzeichen 5 O 258/17) |
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Stade vom 14. Februar 2020 - 5 O 258/17 - wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens sowie die Kosten des Revisionsverfahrens (VI ZR 1173/20) hat die Klägerin zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leisten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert des Berufungsverfahrens beträgt 315.810,09 EUR.
Gründe
I. Die Parteien streiten über restlichen Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, der sich am 16. September 2015 gegen 7:44 Uhr auf einem Bahnübergang in B. ereignet hat. Beteiligt waren ein Zugverband der Klägerin, bestehend aus einem führenden Doppelstocksteuerwagen, mehreren Doppelstockmittelwagen sowie einem Triebfahrzeug mit der internen Zugnummer ... und ein Gelenkbus der Beklagten zu 3 mit dem amtlichen Kennzeichen ..., der zum Unfallzeitpunkt von der Beklagten zu 2 geführt wurde.
Die Klägerin ist ein Eisenbahnverkehrsunternehmen, das in eigenem Namen und für eigene Rechnung Personennahverkehrsleistungen auf Eisenbahnstrecken in Niedersachsen, Hamburg und Bremen erbringt. Die Beklagte zu 1 und die Beklagte zu 3 bieten Omnibusdienstleistungen in Niedersachsen an. Die Beklagte zu 3 betreibt unter anderem die Linie 2103 zwischen B. und H. und ist Eigentümerin des verunfallten Gelenkbusses (Anlage B7). Die Beklagte zu 2 absolvierte zunächst bei der Beklagten zu 3 eine Ausbildung zur Berufskraftfahrerin mit einer Fahrerlaubnis zur Personenbeförderung. Zum Unfallzeitpunkt war sie bei der Beklagten zu 3 seit ca. neun Monaten als Busfahrerin angestellt (Arbeitsvertrag vom 26. November 2014, Anlage B8) und hatte auch schon Fahrten mit dem Gelenkbus durchgeführt.
Am Morgen des Unfalltages übernahm die Beklagte zu 2 die Linienfahrt 2103 von H. nach B.. Im Bus befanden sich ca. 60 Schüler. Die Streckenführung war zuvor aufgrund von Bauarbeiten geändert worden. Die Beklagte zu 2 war als "Springerin" eingeteilt und die Strecke zuvor noch nicht gefahren.
Bei dem Bahnübergang "M." handelte es sich um einen mit Lichtzeichenanlage und Halbschranke mit Fernüberwachung gesicherten Bahnübergang.
Die Beklagte zu 2 fuhr auf der ...straße in nördliche Richtung bis zum Bahnübergang ...straße/..., den sie bei geöffneter Schrankenanlage mit dem vorderen Bereich des Busses passierte und hinter dem sie scharf nach rechts in die Straße "...." abbiegen musste. Die Straßenführung ist dort eng und zudem spitzwinklig.
Der Beklagten zu 2 gelang es auch nach mindestens zweimaligem Zurücksetzen nicht, mit dem Bus die Kurve zu durchfahren. Beim Rangieren geriet das Fahrzeug in eine Winkelstellung, die den sogenannten Gelenkschutz aktivierte und verhinderte, dass die Beklagte zu 2 in der eingeschlagenen Lenkrichtung weiterfahren konnte. Der Motor ließ keine weitere Gasannahme mehr zu. Der Beklagten zu 2 gelang es nicht, die Gelenksperre zu deaktivieren. Während der gesamten Zeit befand sich der Bus mit dem Heck auf den Gleisen des Bahnübergangs.
Die Beklagte zu 2 nahm sodann telefonischen Kontakt zu ihrem Betriebsleiter auf und bat diesen, die Bahngesellschaft zu informieren, als sich nach ca. drei Minuten der unfallgegnerische Zugverband näherte und das Senken der Halbschranken auslöste. Ein vollständiges Absenken der nördlichen Halbschranke war aufgrund des im Gleisbereich stehenden Busses nicht möglich. Die Beklagte zu 2 öffnete die Türen und ließ die Fahrgäste aussteigen. Ca. 20 Sekunden später prallte der Doppelstockwagen des Zuges in das Heck des Gelenkbusses.
Durch die Kollision wurden der führende Doppelstockwagen und der nachfolgende Doppelstockmittelwagen beschädigt. Insgesamt macht die Klägerin einen Schaden in Höhe von 691.702,09 EUR geltend....