Entscheidungsstichwort (Thema)

Anforderungen an die Überwachung der Funktion einer Bahnübergangsanlage; Haftungs- und Zurechnungseinheit zwischen Eisenbahnverkehrsunternehmen und Eisenbahninfrastrukturunternehmen.

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zwischen einem Eisenbahnverkehrsunternehmen und Eisenbahninfrastrukturunternehmen besteht im Rahmen eines Anspruchs aus § 1 HaftPflG bzw. §§ 7, 17 StVG eine Haftungs- und Zurechnungseinheit mit der Folge der Zurechnung der jeweiligen Verursacherbeiträge.

2. Die Überwachung eines Bahnübergangs ist so auszugestalten, dass im Falle eines nicht vollständigen Absinkens der Schranken aufgrund eines auf den Gleisen befindlichen Hindernisses der herannahende Zug noch rechtzeitig vor dem nicht gesicherten Bahnübergang angehalten werden kann.

3. Ist dem Eisenbahnverkehrsunternehmen oder dem Eisenbahninfrastrukturunternehmen eine besondere Gefahrenlage an einem Bahnübergang bekannt, hat das Unternehmen ggf. bei den zuständigen Behörden oder weiteren Dritten auf Sicherungsmaßnahmen hinzuwirken und jedenfalls bis zur vollständigen Umsetzung eines beschlossenen Maßnahmenpaketes umgehend alles Erforderliche und Zumutbare zu tun, um die bekannten Gefahren bestmöglich abzuwenden.

 

Normenkette

HaftpflG § 1; StVG § 17; StVO § 19

 

Verfahrensgang

LG Stade (Urteil vom 12.09.2022; Aktenzeichen 1 O 149/20)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers/Widerbeklagten sowie der Drittwiderbeklagten zu 2) und 3) wird das Urteil der Einzelrichterin der 1. Zivilkammer des Landgerichts Stade vom 12. September 2022 - 1 O 149/20 - samt dem zugrundeliegenden Verfahren aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Berufung, an das erstinstanzliche Gericht zurückverwiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 122.867,87 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Der Kläger nimmt die Beklagten als Gesamtschuldner auf Schadensersatz aus einem Unfall auf der Bahnstrecke ..., L.-C., in Höhe des Bahnkilometers ... auf dem Bahnübergang nahe des S-Bahnhofes A. in Anspruch. (Dritt-)Widerklagend begehren die Beklagten aus dem Unfallereignis Schadensersatz von dem Kläger sowie den Drittwiderbeklagten zu 2) und 3).

Die Beklagte zu 1) ist Inhaberin und Betreiberin der Gleisstrecke im Bereich des Bahnübergangs in A., die Beklagte zu 2) ist ein Eisenbahnverkehrsunternehmen, welches diesen Streckenabschnitt nutzt. Die Beklagte zu 2) ist eine 100%ige Tochtergesellschaft der Beklagten zu 1).

Der Kläger ist der Eigentümer der am Unfallgeschehen beteiligten Sattelzugmaschine mit Sattelauflieger (amtl. Kennzeichen ...). Der Drittwiderbeklagte zu 2) war am Unfalltag der Fahrer der Sattelzugmaschine, die Drittwiderbeklagte zu 3) ist der Haftpflichtversicherer der Sattelzugmaschine.

Der Bahnübergang A. ist mit Andreaskreuzen, Halbschranken und einer Lichtzeichenanlage gesichert. Er ist fernüberwacht, d.h. die Bahnübergangssicherung wird durch den Zug eingeschaltet. Sofern eine Schranke nicht bis in Endlage abgesenkt werden kann, erhält der Fahrdienstleiter eine Störungsmeldung, infolge derer er einen Nothaltauftrag an den herannahenden Triebwagenführer erteilen kann. Diese Ausführungsart der technischen Sicherung ist in der Richtlinie der Deutschen Bahn "Ril 815" unter Punkt 815.0032 vorgesehen (vgl. Anlage B2).

Am 24. Januar 2019 beabsichtigte der bei dem Kläger angestellte Drittwiderbeklagte zu 2) mit einer Sattelzugmaschine samt Sattelauflieger aus dem W.weg in A. kommend den Bahnübergang A. zu überqueren und sodann an der unmittelbar hinter dem Bahnübergang befindlichen T-Kreuzung nach rechts in die B.straße einzubiegen. Bei geöffneter Schranke und nicht aufleuchtender Lichtzeichenanlage befuhr der Drittwiderbeklagte zu 2) den Bahnübergang. Es gelang ihm jedoch aufgrund der Länge seines Gespanns und der örtlichen Verhältnisse nicht, den Bahnübergang unmittelbar zu überqueren und den Abbiegevorgang in einem Zug durchzuführen. Nach einigem Rangieren und während sich das Heck des Aufliegers noch auf den Bahnschienen befand, verließ der Drittwiderbeklagte zu 2) sein Fahrzeug, um sicherzustellen, keine Einrichtungen am Bahnübergang beim Fortsetzen des Abbiegevorgangs zu beschädigen. Während sich der Drittwiderbeklagte außerhalb des Fahrzeuges befand, wechselte die Lichtzeichenanlage auf Rot, ein akustisches Signal ertönte und die Halbschranken begannen, sich zu senken. Die Halbschranke auf Seite des W.weges senkte sich vollständig. Streitig ist zwischen den Parteien, ob sich die Halbschranke auch auf Seiten der B.straße schloss oder ob dies aufgrund des unter der Schranke stehenden Gespanns nicht möglich gewesen ist.

Der Bahnübergang löste eine Störungsmeldung aus, die bei dem Fahrdienstleiter auf dem Stellwerk einging. Dieser erteilte jedoch keinen Nothaltauftrag an den Triebfahrzeugführer, da ein solcher Auftrag den Zusammenstoß nicht mehr hätte verhindern können, da der Zug nicht mehr rechtzeitig hätte angehalten werden können.

Der heranna...

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