Entscheidungsstichwort (Thema)
Klageschrift nie zugestellt: Urteil nichtig; Verdecktes Teilurteil
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Urteil, das gegen einen einfachen Streitgenossen ergangen ist, dem die Klageschrift nicht zugestellt worden ist, ist nichtig. Es erwächst nicht in materielle Rechtskraft, ist aber formell rechtskraftfähig.
2. Obwohl der Streitgenosse nie Partei des Rechtsstreits geworden ist, ist er im Berufungsverfahren als Partei zu führen, damit die klarstellende Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils nach außen hin deutlich wird.
3. Ein gegen den anderen Streitgenossen ergangenes Urteil ist ein verdecktes Teilurteil, dessen Erlass bei einer Klage gegen die personenverschiedenen Halter und Führer eines Kraftfahrzeugs aufgrund der Gefahr einander widersprechender Entscheidungen unzulässig ist.
4. Die volle Überzeugung des Tatgerichts von einem manipulierten Unfallgeschehen kann sich auch aus einer Vielzahl von Indizien ergeben.
Normenkette
ZPO §§ 253, 261, 301
Verfahrensgang
LG Hannover (Aktenzeichen 11 O 332/17) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten zu 1 wird das am 17. April 2020 verkündete Urteil des Einzelrichters der 11. Zivilkammer des Landgerichts Hannover ≪11 O 332/17≫ einschließlich des Verfahrens aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Berufungsverfahrens - an das Landgericht Hannover zurückverwiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 6.403,28 EUR festgesetzt.
Gründe
(gem. §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 S. 1 ZPO)
I. Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht erhobene und begründete, Berufung der Beklagten hat in der Sache teilweise Erfolg. Sie führt auf Antrag des Klägers gemäß § 538 Abs. 2 Nr. 7 ZPO zu einer Aufhebung des angefochtenen Urteils des Einzelrichters der 11. Zivilkammer ≪11 O 332/17≫ vom 17. April 2019 einschließlich des Verfahrens und zur Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Berufungsverfahrens - an das Landgericht Hannover.
Gemäß § 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 7 ZPO darf das Berufungsgericht die Sache, soweit ihre weitere Verhandlung erforderlich ist, unter Aufhebung des Urteils und des Verfahrens an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückverweisen, wenn das angefochtene Urteil ein entgegen den Voraussetzungen des § 301 ZPO erlassenes Teilurteil ist. Diese Voraussetzungen sind erfüllt.
1. Die Klageschrift ist dem Beklagten zu 2. nicht zugestellt worden. Gemäß §§ 253, 261 ZPO wird die Klage durch die Zustellung der Klageschrift erhoben und somit die Streitsache rechtshängig. Der im Rahmen des Rechtsstreits auf Beklagtenseite aufgetretene Prozessbevollmächtigte hat nur die Vertretung der Beklagten zu 1. angezeigt und konnte keine Erklärungen für und gegen den Beklagten zu 2. entgegennehmen. Eine Heilung des Zustellungsmangels im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens gemäß § 189 ZPO scheidet daher aus. Der Beklagte zu 2. ist somit nie Partei des Rechtsstreits geworden. Auch der Umstand, dass die Beklagte zu 1. dem Beklagten zu 2. als Nebenintervenientin beigetreten ist, berechtigt sie nicht zur Entgegennahme der Klageschrift mit Wirkung für und gegen den Beklagten zu 2. Der Nebenintervenient vertritt die von ihm unterstützte Partei nicht (BeckOK ZPO/Dressler, 38. Ed. 1.9.2020, ZPO § 67 Rn. 1).
Der Beklagte zu 2. ist dennoch mit dem angefochtenen Urteil verurteilt worden. Er ist in dem Rubrum des Urteils als Beklagter zu 2. geführt und unter dem Urteilsauspruch zu 1. - 3. zusammen mit der Beklagten zu 1. als "Die Beklagten" in der Hauptsache antragsgemäß verurteilt worden. Unter dem Urteilsausspruch zu 4. sind ihm zusammen mit der Beklagten zu 1. die Kosten des Rechtsstreits auferlegt worden. Das Urteil ist am 17.04.2019 gemäß § 310 Abs. 1 S. 1 ZPO verkündet worden und somit existent geworden.
Auch wenn in der Tenorierung nicht explizit ausgesprochen, bei einer Verurteilung als "Die Beklagten" aber bereits naheliegend, ergibt sich aus den Entscheidungsgründen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt worden sind. Mit Beginn der Entscheidungsgründe wird in dem angefochtenen Urteil nämlich ausgeführt, dass die Beklagten auf Schadensersatz aus "§§ 7, 18, 17 StVG, 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB, 249 ff., 426 BGB" haften würden. Hinsichtlich der prozessualen Nebenentscheidungen ergibt sich dies nicht aus § 426 BGB, aber aus § 100 Abs. 1, Abs. 4 ZPO.
Soweit der Beklagte zu 2. nie Partei des Rechtsstreits geworden, aber dennoch verurteilt worden ist, handelt es sich für ihn um ein nichtiges Urteil (BGH NJW-RR 2006, 565, 566; BayObLG NJW-RR 2000, 671; KG NJW-RR 1987, 1215, 1216; HessLAG BB 1982, 1924; LG Tübingen JZ 1982, 474; MDR 1982, 672). Dieses erwächst nicht in materielle Rechtskraft (BGH NJW-RR 2006, 565, 566; NJW 1952, 469), ist aber der formellen Rechtskraft fähig, beendet also die Instanz (BeckOK ZPO/Elzer, 38. Ed. 1.9.2020, ZPO § 300 Rn. 66). Um den Eintritt formeller Rechtskraft zu verhindern, kann ...