Entscheidungsstichwort (Thema)
Höhere Gewalt im Straßenverkehr
Leitsatz (amtlich)
1. Die Definition der "höheren Gewalt" i.S.v. § 7 Abs. 2 StVG n.F. entspricht derjenigen, die die Rechtsprechung - bezogen auf diesen auch in anderen Vorschriften des deutschen Rechts verwendeten Begriff - entwickelt hat.
2. Wird ein den an einer Bushaltestelle vorbeiführenden Radweg benutzender Radfahrer von einem dort wartenden Schüler infolge Unachtsamkeit so angestoßen, dass er zu Fall kommt und von einem gerade wieder anfahrenden Bus überfahren wird, so stellt dieses Ereignis für den Halter des Busses keine höhere Gewalt i.S.v. § 7 Abs. 2 StVG n.F. dar.
Normenkette
StVG n.F. § 7 Abs. 2
Verfahrensgang
LG Lüneburg (Urteil vom 13.10.2004; Aktenzeichen 6 O 41/04) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das am 13.10.2004 verkündete Grund- und Teilurteil der Einzelrichterin der 6. Zivilkammer des LG Lüneburg wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung wegen der Kosten des Berufungsverfahrens durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung i.H.v. 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Streitwert des Berufungsverfahrens: bis zu 25.000 EUR.
Gründe
I. Der Kläger begehrt von der Beklagten aus abgetretenem Recht materiellen und immateriellen Schadensersatz für schon entstandenen und in der Zukunft entstehenden Schaden aufgrund eines Verkehrsunfalls seiner Ehefrau, Frau I. A., vom 19.2.2003.
Am Unfalltag befuhr die am 9.8.1946 geborene Ehefrau des Klägers mit ihrem Fahrrad gegen 13:15 Uhr den Fahrradweg auf der H. Straße in C. in Richtung Innenstadt. An der Bushaltestelle "C." erhielt sie von einem der dort wartenden Schüler unvermittelt einen seitlichen Anstoß, infolgedessen sie auf die Fahrbahn der H. Straße stürzte. Dort wurde sie von dem rechten Hinterrad eines von der Beklagten betriebenen Stadtbusses überfahren, als dieser an der Bushaltestelle gerade wieder anfuhr. Bei diesem Unfall erlitt die Ehefrau des Klägers schwere Verletzungen und voraussichtlich bleibende Schäden.
Die Beklagte hat gegen ihre Inanspruchnahme durch den Kläger eingewandt, dass der Unfall für sie auf höherer Gewalt i.S.v. § 7 Abs. 2 StVG beruhe. Außerdem treffe die Ehefrau des Klägers ein Mitverschulden an dem Zustandekommen des Unfalls.
Nach Vernehmung von drei Zeugen zum Unfallhergang hat das LG die auf Zahlung und Feststellung bezüglich des materiellen Schadens gerichteten Klageanträge zu jeweils 2/3 und die entsprechenden die immateriellen Schäden betreffenden Anträge unter Berücksichtigung einer Mitverantwortlichkeit von Frau I. A. von 1/3 für gerechtfertigt erklärt. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Gegen dieses Urteil, auf dessen Tatbestand und Entscheidungsgründe zur näheren Sachdarstellung verwiesen wird, wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung, mit der sie unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags ihre Auffassung weiterverfolgt, dass der Unfall auf höherer Gewalt beruhe und das Mitverschulden der Ehefrau des Klägers jedenfalls so schwer wiegend sei, dass es ihre - der Beklagten - Haftung ausschließe.
Die Beklagte beantragt, unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtenen Urteil.
Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Parteien im Berufungsverfahren wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
II. Die zulässige Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg.
Das LG hat zu Recht einen Anspruch des Klägers aus abgetretenem Recht auf Schmerzensgeld und Schadensersatz bejaht, der dem Grunde nach gem. §§ 7 Abs. 1, 11, 9 StVG, §§ 254, 398 BGB zu 2/3 gerechtfertigt ist. Es hat dabei mit zutreffender Begründung ausgeführt, dass die Ersatzpflicht der Beklagten nicht wegen der Verursachung des Unfalls durch höhere Gewalt ausgeschlossen ist. Der Kläger braucht sich das Mitverschulden seiner Ehefrau an dem Zustandekommen des Unfalls auch nicht mit mehr als dem vom LG angenommenen Anteil von 1/3 anspruchsmindernd entgegenhalten zu lassen. Im Einzelnen:
1. Der Senat teilt die Auffassung des LG, dass die Haftung der Beklagten nicht nach § 7 Abs. 2 StVG ausgeschlossen ist, weil kein Fall von höherer Gewalt im Sinne dieser Vorschrift gegeben ist. "Höhere Gewalt" ist im deutschen Recht der gebräuchlichste Befreiungsgrund bei verschuldensunabhängiger Haftung (vgl. z.B. § 701 Abs. 3 BGB, §§ 1 Abs. 2, 2 Abs. 3 Nr. 3 HpflG, § 22 Abs. 2 WHG). In der Tradition der Rechtsprechung von Reichsgericht und BGH hat der Begriff in diesem Kontext eine feste Formel erhalten. Danach beruht auf höherer Gewalt ein außergewöhnliches, betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen drit...