Entscheidungsstichwort (Thema)

Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden bei Auffahrunfall; zur Haftungsverteilung zwischen Auffahrendem und entgegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO ohne zwingenden Grund stark Bremsendem

 

Leitsatz (amtlich)

1. Gegen den Auffahrenden spricht der Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Unfallverursachung, sofern nicht besondere Umstände vorliegen, die gegen die Typizität des Geschehens sprechen.

2. Auch im Falle eines Kettenauffahrunfalls kann nach den Umständen des Einzelfalls ein Anscheinsbeweis gegen den ersten Auffahrenden sprechen.

3. Der Hintermann muss grundsätzlich, wenn keine atypische Konstellation vorliegt, mit einem plötzlichen scharfen Bremsen des Vorausfahrenden rechnen; der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis ist in dem Fall nicht erschüttert.

4. Der Auffahrende haftet auch bei unverhofft starkem Bremsen des Vorausfahrenden ohne zwingenden Grund in der Regel überwiegend (hier 70 : 30).

 

Normenkette

StVG § 17; StVO § 4 Abs. 1 S. 2

 

Verfahrensgang

LG Verden (Aller) (Urteil vom 15.04.2020; Aktenzeichen 5 O 248/18)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 15. April 2020 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Verden ≪5 O 248/18≫ teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 4.825,93 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 25. September 2018 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die weitergehende Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin zu 40 % und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 60 %.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 8.043,22 Euro festgesetzt.

 

Gründe

(abgekürzt gem. §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 S. 1 ZPO)

I. Die zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache nur teilweise Erfolg.

1. Die von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche folgen dem Grunde nach aus §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, Abs. 2, 18 Abs. 1, Abs. 3 StVG, 253, 823 Abs. 1 BGB, 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 4 VVG. Sie bestehen jedoch nur auf Grundlage einer Haftungsquote von 70 : 30 zu Lasten der Klägerin. Im Einzelnen gilt Folgendes:

a) Zunächst ist festzuhalten, dass entgegen der Ansicht der Klägerin die Entscheidung des Landgerichts über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG durch den Senat vollumfänglich überprüfbar ist. Soweit die Klägerin zur Begründung ihrer Auffassung auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 26. Januar 2016 - VI ZR 179/15 - verweist, bleibt dies ohne Erfolg. Denn der Bundesgerichtshof hat darin lediglich ausgeführt, die Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG - wie im Rahmen des § 254 BGB - sei Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren [Unterstreichung durch den Senat] nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind (BGH, aaO, Rn. 10, juris). Die Klägerin zitiert insofern falsch, wenn sie ausführt, die Haftungsverteilung sei "... im Rechtsmittelverfahren nur darauf zu überprüfen..." (vgl. Berufungserwiderung, dort S. 2). Das Berufungsverfahren ist - anders als das Revisionsverfahren vor dem Bundesgerichtshof - eine zweite Tatsacheninstanz. Die Entscheidung des Landgerichts über die Haftungsverteilung ist daher für den erkennenden Senat vollumfänglich überprüfbar.

b) Die erstinstanzlich zunächst streitige Frage der Aktivlegitimation der Klägerin greifen die Beklagten im Berufungsverfahren nicht auf. Hintergrund ist das Vorbringen der Klägerin in der Replik (Bl. 82ff. d.A.), auf dem die entsprechenden Feststellungen des Landgerichts im angefochtenen Urteil (vgl. LGU S. 3) fußen. Von der Aktivlegitimation der Klägerin ist danach im Berufungsverfahren auszugehen.

c) Weder die Beklagten mit ihrer Berufung noch die Klägerin im Rahmen ihrer Berufungserwiderung greifen das landgerichtliche Urteil insoweit an, als das Landgericht ohne Weiteres angenommen hat, der streitgegenständliche Unfall sei für keine Seite unabwendbar i. S. v. § 17 Abs. 3 StVG gewesen. Das Landgericht ist unmittelbar in die Haftungsabwägung eingetreten (vgl. LGU S. 6), ohne sich zur Frage der Unabwendbarkeit zu verhalten. Im Ergebnis ist gegen die damit verbundene Wertung des Landgerichts allerdings nichts zu erinnern. Denn dass sich der Fahrer der Klägerin und der Beklagte zu 1) nicht wie Idealfahrer im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Frage der Unabwendbarkeit nach § 17 Abs. 3 StVG (vgl. u.a. BGH, Urteil vom 10. März 1998 - VI ZR 30/97 -, Rn. 17 mwN, juris) verhalten haben, liegt angesichts des Unfallhergangs unter Berücksichtigung der sich aus § 4 Abs. 1 S. 1 und S. 2 StVO ergebenden Vorgaben auf der Hand.

d) Im Rahmen der deshalb nach §§ 17 Abs. 1, Abs. 2, 18 Abs. 3 StVG vorzunehmenden Haftungsabwägung hängt die Verpflich...

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