Entscheidungsstichwort (Thema)

Haftung eines achtjährigen Kindes, das aufgrund längerer Unaufmerksamkeit mit dem Fahrrad die Spur verliert und eine stehende Fußgängerin anfährt.

 

Leitsatz (amtlich)

Einem altersgerecht entwickeltem achtjährigem Kind, das bereits seit seinem fünften Lebensjahr im Straßenverkehr Fahrrad fährt, muss bewusst sein, dass eine länger andauernde Vorwärtsfahrt mit dem Fahrrad, während der Kopf rückwärtsgewandt und damit das Blickfeld vom Fahrweg abgewandt ist, gefahrenträchtig ist.

 

Normenkette

BGB §§ 823, 832

 

Verfahrensgang

LG Hannover (Aktenzeichen 16 O 9/17)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil der Einzelrichterin der 16. Zivilkammer des Landgerichts Hannover vom 22. März 2019 - 16 O 9/17 - unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels abgeändert und neu gefasst wie folgt:

Die Beklagte zu 1) wird verurteilt, an die Klägerin 7.448,39 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 21.1.2017 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagte zu 1) verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche künftigen immateriellen sowie materiellen Schäden zu ersetzen, die ihr aus dem Vorfall vom 4.10.2016 in R./Italien entstanden sind, bzw. noch entstehen werden, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind bzw. übergehen werden.

Die Beklagte zu 1) wird verurteilt, an die Klägerin außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 887,03 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 21.1.2017 zu zahlen.

Im Übrigen wird die weitergehende Klage abgewiesen und die weitergehende Berufung zurückgewiesen.

Die Gerichtskosten werden der Klägerin zu 2/3 und der Beklagten zu 1) zu 1/3 auferlegt. Von den außergerichtlichen Kosten trägt die Klägerin diejenigen der Beklagten zu 2) und 3) in vollem Umfang, die Beklagte zu 1) trägt diejenigen der Klägerin zu 1/3. Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert wird auf 15.021,27 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Die Klägerin und Berufungsklägerin (im Folgenden: Klägerin) verlangt von der minderjährigen Beklagten und Berufungsbeklagten zu 1) und ihren Eltern, den Beklagten und Berufungsbeklagten zu 2) und 3) (im Folgenden: Beklagte zu 1), 2), 3)), Schadensatz, Schmerzensgeld und die Feststellung der Einstandspflicht für künftige Schäden aus einem Unfallgeschehen vom 4. Oktober 2016 am Gardasee in Italien.

Die Klägerin war am Unfalltag als Fußgängerin auf der Promenade des Gardasees in R./Italien mit ihrer Freundin, der Zeugin W., unterwegs. Die 2008 geborene, am Unfalltag achtjährige Beklagte zu 1) fuhr mit ihrem Fahrrad in entgegengesetzter Richtung auf der Promenade. Während der Vorwärtsfahrt drehte sich die Beklagte zu 1) eine Zeitlang zu ihren Eltern, den Beklagten zu 2) und 3) um, die einige Meter hinter ihr in Sicht- und Rufweite folgten und dabei ihre mitgeführten Fahrräder schoben. Dabei verlor sie unbemerkt ihre Fahrspur und näherte sich der an der Uferpromenade stehenden Klägerin und ihrer Freundin, der Zeugin W. Als die Eltern den Kursverlust ihrer Tochter bemerkten, versuchte die Beklagte zu 2) noch, ihre Tochter zu warnen, die eine Vollbremsung einleitete. Die Klägerin geriet indes ins Straucheln, verlor das Gleichgewicht und stürzte von der Uferpromenade auf einen ca. einen Meter darunterliegenden Betonsteg und von dort aus ins Hafenbecken. Die Zeugin W., die unmittelbar vor dem Unfall etwas schräg versetzt vor der Klägerin stand, konnte noch seitlich ausweichen.

Die Klägerin erlitt bei ihrem Sturz eine Sprunggelenkfraktur links mit Syndesmosensprengung, eine Delta-Band-Ruptur, eine Kapselruptur und ausgeprägte Hämatombildung medial/lateral sowie einen Ausriss der Peronealsehnenscheide und Hautabschürfungen am Fußrücken. Mit einem Rettungswagen wurde die Klägerin zunächst in ein Krankenhaus in Italien gebracht, sie entschied sich jedoch zu einer Operation in M. Vom 5. bis 13. Oktober 2016 befand sich die Klägerin in stationärer Behandlung in der S. Klinik in M. Es folgten Nachsorgetermine bei ihrem Hausarzt, Krankengymnastik und eine weitere Operation in der S. Klinik in M., bei der die eingesetzten Schrauben entfernt wurden.

Die Klägerin hat erstinstanzlich behauptet, die Beklagte zu 1) sei mit ihrem Kinderrad zunächst "sehr zügig" in der Mitte der Promenade gefahren. Plötzlich habe ihre Freundin, die Zeugin W., einen Sprung nach links gemacht, sie habe jedoch nicht mehr reagieren können und sei von der Beklagten zu 1) angefahren worden. Durch die Berührung mit dem Lenker der Beklagten zu 1) habe sie ihr Gleichgewicht verloren und sei gestürzt.

Sie habe bei dem Unfall Schäden in Höhe von insgesamt 3.021,27 EUR erlitten. Ihr Mobiltelefon im Wert von 1.021,00 EUR sei zerstört worden. Für Medikamente habe sie Zuzahlungen in Höhe von 142,43 EUR, für die Klinik in Höhe von 174,50 EUR geleistet. Sie habe Fahrtkosten für die Fahrt zur Klinik und diversen ...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?