Leitsatz (amtlich)
1. Der Verweis auf andere Fahrzeugtypen, Messwerte und Expertenmeinungen reicht für das Vorliegen greifbarer Anhaltspunkte für eine unzulässige Abschalteinrichtung nicht aus, wenn der Hersteller Untersuchungen des Kraftfahrbundesamtes vorlegen kann, die bezogen auf den konkreten Motor gegen das Vorliegen einer Abschalteinrichtung streiten.
2. Die Annahme objektiver Sittenwidrigkeit setzt voraus, dass die handelnden Personen bereits bei der Entwicklung und Verwendung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein der Unzulässigkeit handelten und einen Verstoß billigend in Kauf nahmen.
Verfahrensgang
LG Görlitz (Aktenzeichen 1 O 378/21) |
Tenor
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Endurteil des Landgerichts Görlitz vom 27.05.2022 - 1 O 378/21 - wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil und das oben genannte landgerichtliche Urteil sind vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht zuvor die Beklagte Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Beschluss:
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 32.707,84 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Zahlung von Schadensersatz Zug um Zug gegen Rückgabe und Rückübereignung eines Fahrzeuges vor dem Hintergrund des sogenannten Diesel-Abgasskandals.
Am 21.04.2018 erwarb die Klägerin einen gebrauchten VW Tiguan 2.0 TDI 110 kW (Erstzulassung 16.12.2016 mit einem Kilometerstand von 40.825 Kilometern beim Erwerb). In dem Fahrzeug ist ein Motor vom Typ EA288 mit SCR-Katalysator, Euronorm 6 verbaut. Es wurde über die VW-Bank AG darlehensfinanziert; das Darlehen ist zwischenzeitlich vollständig getilgt. Am 20.12.2022 wies das Fahrzeug einen Kilometerstand von 107.812 Kilometern auf.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und der erstinstanzlichen Antragstellung wird zunächst auf den Tatbestand des Urteils des Landgerichts Görlitz vom 27.05.2022 - 1 O 378/21 - verwiesen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen.
Es könne offen bleiben, ob im Fahrzeug des Klägers eine im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Verordnung 2007/715 EG unzulässige Abschalteinrichtungen verbaut seien, denn jedenfalls sei ein diesbezügliches Verhalten der Beklagten nicht als sittenwidrig zu qualifizieren. Andere Anspruchsnormen kämen nicht in Betracht, insbesondere handele es sich bei den einschlägigen EU-Verordnungen nicht um Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des landgerichtlichen Urteils Bezug genommen.
Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin ihr erstinstanzliches Begehren in vollem Umfang weiter, allerdings mit einer Erhöhung des Klage- und Berufungsantrages um 300,00 EUR wegen zwischenzeitlicher Tilgung des Finanzierungsdarlehens und Neuberechnung der Forderung auf der Basis des vollen Kaufpreises. Unter Bezugnahme auf Messungen der Deutschen Umwelthilfe, eine Mitteilung der "United States Environmental Protection Agency" aus dem Jahre 2015 in Bezug auf einen VW-Motor, öffentliche Äußerungen des Vorstandsvorsitzenden der Beklagten und schließlich die Ergebnisse des sogenannten Untersuchungsberichtes Volkswagen und Auswertung der beklagtenseits verfassten "Applikationsrichtlinie" behauptet sie unter Wiederholung ihres erstinstanzlichen Vortrags den Einbau illegaler Abschalteinrichtungen in ihr Fahrzeug. In dessen Motor sei eine Software - sogenanntes Thermofenster - verbaut, aufgrund derer im normalen Straßenbetrieb in Temperaturbereichen unter 5 Grad Celsius mindestens das Dreifache des Wertes an Stickoxid ausgestoßen werde, der für das Fahrzeug mit Euro 6 Abgasnorm (80 mg/km) zulässig sei. Darüber hinaus verfüge das Fahrzeug über eine Softwarefunktion, aufgrund der anhand von sogenannten Fahrkurven der Neue Europäische Fahrzyklus (NEFZ) erkannt, daraufhin ca. 1.200 Sekunden nach Motorstart (so lange dauere die NEFZ-Prüfung) in einen anderen (den "schmutzigen") Abgasmodus gewechselt und in diesem mindestens das 3,8-fache des zulässigen Stickoxides ausgestoßen werde (Seiten 4 und 49 der Berufungsbegründung). Darüber hinaus erfülle das On-Board-Diagnose-System seine gesetzlich vorgesehene Funktion nicht, sondern sei von der Beklagten dergestalt manipuliert worden, dass es trotz eines stark erhöhten Stickoxidausstoßes keine Störung anzeige. Letzteres deute zumindest indiziell auf den Einbau anderer illegaler Abschalteinrichtungen hin.
Sie rügt, das Landgericht habe die Anforderungen an die Substantiierungslast überspannt. Es habe fälschlicherweise angenommen, dass es auf die realen Verbrauchswerte nicht ankomme.
Sie beantragt,
I. Die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerpartei 32.707,84 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit abzüglich einer Nutzungsentschädigung in ...