Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtzeitigkeit der Übermittlung gemäß Art. 247 § 1 Abs. 2 S. 1 EGBGB
Leitsatz (amtlich)
Rechtzeitig im Sinne von Art. 247 § 1 Abs. 2 S. 1 EGBGB ist die Übermittlung, wenn der Verbraucher die Möglichkeit hat, die Informationen vor seiner Abgabe seiner Vertragserklärung in Ruhe zur Kenntnis zu nehmen. Eine Mindestbedenkzeit besteht nicht. Maßgeblich sind die Umstände des Einzelfalls.
Normenkette
EGBGB Art. 247 § 1
Verfahrensgang
LG Gießen (Urteil vom 28.10.2022; Aktenzeichen 3 O 520/21) |
Tenor
Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.
Die gegen das am 28. Oktober 2022 verkündete Urteil des Landgerichts Gießen gerichtete Berufung wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens fallen den Beklagten zur Last.
Das Urteil und das angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen
Gründe
I. Die Beklagten wenden sich gegen ihre Verurteilung zur Zahlung einer Nichtabnahmeentschädigung.
Mit Antrag vom 3. Februar 2020 beantragten die Beklagten bei der u.a. als Bank1 auftretenden Rechtsvorgängerin der Klägerin (im Folgenden einheitlich als Klägerin bezeichnet) die Gewährung eines grundpfandrechtlich besicherten "Wohnungsbaudarlehens" i.H.v. 172.000,00 EUR. Dem Darlehensantrag war ein Europäisches Standardisiertes Merkblatt (ESIS-Merkblatt) beigefügt.
Die Beklagten unterzeichneten am 3. Februar 2020 im Zuge eines mit dem Darlehensvermittler A geführten Gesprächs eine Empfangsbestätigung, der zu entnehmen ist, dass die Beklagten u.a. das ESIS-Merkblatt vor Vertragsschluss erhalten haben.
Die Klägerin nahm den Darlehensantrag mit Schreiben vom 13. Februar 2020 an.
Mit E-Mail vom 24. März 2020 erklärten die Beklagten die Kündigung des Darlehensvertrags und mit Schreiben vom 6. April 2020 den Widerruf ihrer auf Abschluss des Darlehensvertrags gerichteten Willenserklärungen.
Die Klägerin bezifferte daraufhin den ihr infolge der Nichtabnahme des Darlehens entstandenen Schaden mit 13.335,90 EUR und mahnte den Ausgleich der Forderung mehrfach an.
Die Klägerin hat die Beklagten auf Zahlung i.H.v. 13.749,92 EUR in Anspruch genommen. Sie hat geltend gemacht, ihr stehe ein Anspruch auf eine Nichtabnahmeentschädigung gem. Ziff. 6.15.1 ff. des Darlehensvertrags zu. Der von den Beklagten erklärte Widerruf sei unwirksam, da er verspätet erfolgt sei.
Weiter hat die Klägerin behauptet, den Beklagten sei am 3. Februar 2020 das ESIS-Merkblatt und eine Abschrift ihres Vertragsangebots überlassen worden.
Die Beklagten haben behauptet, sie hätten am 3. Februar 2020 keine Abschrift ihres Darlehensantrags erhalten. Diese sei ihnen erst mit der E-Mail des Darlehensvermittlers A am 2. April 2020 übersandt worden. Das ESIS-Merkblatt sei ihnen am 3. Februar 2020 "im Zusammenhang mit dem sie bindenden Darlehensangebot zur Kenntnis gebracht" worden. Sie haben die Auffassung vertreten, selbst wenn sie das ESIS-Merkblatt vor Vertragsschluss erhalten hätten, genügte dies nicht den gesetzlichen Anforderungen. Nach Art. 247 § 1 Abs. 2 S. 1 EGBGB müsse das ESIS-Merkblatt rechtzeitig vor Abgabe der Vertragserklärung des Darlehensnehmers übermittelt werden. Davon könne hier nicht ausgegangen werden, wenn das Merkblatt am selben Tag erstellt worden sei, wie der Darlehensantrag. Sinn und Zweck der Regelung sei es, dass der Verbraucher die Informationen möglichst frühzeitig erhalte, um andere Angebote vergleichen und gegebenenfalls den Rat Dritter einholen zu können. Wegen der Verletzung dieser vorvertraglichen Pflicht stehe ihnen ein aufrechenbarer Gegenanspruch in gleicher Höhe zu, mit dem die Aufrechnung erklärt werde.
Weiter haben die Beklagten geltend gemacht, die Klägerin habe die Höhe der geltend gemachten Nichtabnahmeentschädigung unzutreffend ermittelt. Die ersparten Risikokosten und die in Ansatz gebrachten Verwaltungskosten seien zu gering. Offenbar habe die Klägerin bei ihrer Berechnung die Sondertilgungsmöglichkeiten berücksichtigt. Es erschließe sich allerdings nicht, warum die erste Sondertilgungsmöglichkeit nicht wie die anderen zum 1. Januar des Jahres berücksichtigt worden sei. Die Klägerin könne auch nicht 250,00 EUR Bearbeitungsentgelt verlangen. Ein solcher Anspruch sei bereits nicht schlüssig vorgetragen. Im Übrigen wäre die Vereinbarung eines solchen Bearbeitungsentgelts überraschend und deshalb unwirksam.
Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Darlehensvermittlers A als Zeuge. Sodann hat es die Beklagten zur Zahlung i.H.v. 13.335,90 EUR nebst Zinsen i.H.v. 2,5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 25. Mai 2020 verurteilt. Im Übrigen hat das Landgericht die Klage abgewiesen.
Soweit für das Berufungsverfahren von Interesse hat das Landgericht zur Begründung ausgeführt, die Klägerin habe gegen die Beklagten einen Anspruch auf Zahlung i.H.v. 13.335,90 EUR aus Ziff. 6.15.3 des Darlehensvertrags. Der Vertrag sei weder durch die von den Beklagten erklärte Kündigung noch durch den Widerruf beendet worden. Die Klägerin habe zur Überzeu...