Leitsatz (amtlich)
1. Der Umstand, dass ein Unfallgeschädigter nach vordergründigem Ausheilen der Primärverletzung weiterhin medizinisch nicht sicher objektivierbare gesundheitliche Beschwerden hat, die zum Verlust seines Arbeitsplatzes und zur zunehmenden Minderung seiner Erwerbsfähigkeit geführt haben, rechtfertigt den Schluss auf eine unfallbedingte psychische Erkrankung.
2. Dies ist auch dann bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen, wenn der Geschädigte selbst sich nicht auf eine psychische Erkrankung beruft.
Normenkette
BGB §§ 823, 847
Verfahrensgang
LG Frankfurt am Main (Urteil vom 20.06.1995; Aktenzeichen 2-18 O 105/94) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des LG Frankfurt/M. vom 20.6.1995 teilweise abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, über den mit Urt. v. 20.6.1995 zuerkannten Betrag hinaus weitere 6.775,75 EUR nebst 4 % Zinsen hieraus seit dem 5.6.1991 an die Klägerin zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche künftigen materiellen und immateriellen Schäden, d.h. insb. aus Aufhebung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit und wegen Vermehrung ihrer Bedürfnisse aus dem Verkehrsunfall vom 11.2.1990 zu zahlen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die weiter gehende Berufung der Klägerin und die Berufung der Beklagten werden zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Gegen dieses Urteil wird die Revision zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Schadensersatz und Schmerzensgeld aufgrund eines Verkehrsunfalls, den sie am 11.2.1990 auf dem Wege zu ihrer Arbeitsstätte erlitten hat.
Die 19.. geborene Klägerin hatte mit ihrem Pkw ordnungsgemäß an einer roten Ampel angehalten, als ein Lkw aus Unachtsamkeit auf das stehende Fahrzeug der Klägerin auffuhr. Die hundertprozentige Einstandspflicht der Beklagten als Haftpflichtversicherer des Unfallverursachers ist zwischen den Parteien außer Streit.
Die Erstversorgung der Klägerin erfolgte im Krankenhaus O1; der seinerzeit behandelnde Arzt Dr. A gab ggü. der Beklagten als Diagnose an: Schädelprellung, Distorsion zweiten Grades der Halswirbelsäule, Distorsion der Lendenwirbelsäule, Prellung rechtes Knie, Prellung rechtes Ellbogengelenk. Für das Unfallereignis bestehe eine Amnesie; die Minderung der Erwerbsfähigkeit wurde mit 100 % vom 11.2. bis 30.4.1990 angegeben (Bl. 11/12 d.A.).
Nach drei Tagen begab sich die Klägerin auf eigenen Wunsch zur weiteren Behandlung in die berufsgenossenschaftliche Unfallklinik in O2, wo sie bis zum 10.3.1990 verblieb. Der ärztliche Direktor Dr. B stellte in einem chirurgischen Abschlussgutachten vom 10.3.1990 als Unfallfolgen fest:
- Schädelprellung, ohne Funktionsverlust zeitgerecht abgeheilt.
- Prellung am rechten Kniegelenk, ohne bleibenden Funktionsverlust zeitgerecht abgeheilt.
- Prellung am rechten Ellbogengelenk, ohne bleibenden Funktionsverlust zeitgerecht abgeheilt.
- Schwere Zerrung der Halswirbelsäule, mit verbleibenden endgradigen Bewegungsschmerzen.
- Zerrung der Lendenwirbelsäule, ohne bleibende Beeinträchtigung verheilt.
Der Berufsgenossenschaft wurde aufgrund der Unfallfolgen eine Gesamtvergütung für die Dauer eines halben Jahres von 20 % empfohlen; eine darüber hinaus gehende Minderung der Erwerbsfähigkeit im rentenberechtigenden Ausmaß sei nicht zu erwarten (Bl. 289-298 d.A.). In einem ergänzenden neurologischen Abschlussgutachten des Chefarztes der Neurologischen Abteilung, Dr. C, vom 13.3.1990 heißt es zusammenfassend: "Neurologischerseits finden sich bei Abschluss der stationären Heilbehandlung in der BG-Unfallklinik O2 keine objektivierbaren neurologischen Schädigungen mehr".
Am 25.4.1990 erlitt die Klägerin bei einem Sturz auf der Kellertreppe einen Bänderriss am rechten Sprunggelenk und suchte daraufhin erneut die Unfallklinik in O2 auf, wo sie am 16.5.1990 entlassen wurde. In dem angeforderten Bericht des ärztlichen Direktors Dr. B an die Beklagte vom 15.6.1990 wurde eine Arbeitsunfähigkeit von voraussichtlich acht Wochen attestiert (Bl. 258 ff. d.A.).
In der Folgezeit konsultierte die Klägerin wegen behaupteter Schwindelbeschwerden zunächst den HNO-Arzt Dr. D in O3, der im Tonaudiogramm eine "leichtgradige pancochleäre Innenohrschwerhörigkeit rechts mit geringfügiger Betonung der hohen Frequenzen" feststellte und eine zusätzliche neurologische Untersuchung am Heimatort empfahl, nachdem eine computergestützte Gleichgewichtsfunktionsprüfung "Anhalt für eine zentrale Gleichgewichtsfunktionsstörung" ergeben hatte. Nach seiner Auffassung stünden "die hier erhobenen Befunde bezüglich der Schwerhörigkeit und der Gleichgewichtsfunktionsstörung mit dem Unfallereignis in Zusammenhang" (Bl. 17/18...