Entscheidungsstichwort (Thema)
Wettbewerbsrechtliches einstweiliges Verfügungsverfahren: Verweisung an die zuständige Kammer für Handelssachen nach Verhandeln zur Sache in der Güteverhandlung; Zulässigkeit und Begründetheit der sofortigen Beschwerde gegen den Verweisungsbeschluss
Leitsatz (amtlich)
1. Verstößt eine Verweisung des Rechtsstreits an die zuständige Kammer für Handelssachen sowohl gegen § 101 Abs. 1 S. 1 GVG als auch gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Bindung an den gesetzlichen Richter aus § 101 Abs. 1 S. 2 GG, so entfaltet die Verweisung ausnahmsweise entgegen der gesetzlichen Regelung der Unanfechtbarkeit aus § 102 S. 2 GVG keine Bindungswirkung.
2. Das Verhandeln zur Sache i.S.v. § 101 Abs. 1 Satz 1 GVG beschränkt sich nicht auf das Verhandeln zur Hauptsache, sondern ist in einem weiten Sinne zu verstehen. Es erfasst auch die Erörterung von Vorfragen, z.B. zur Frage der Zuständigkeit.
3. Ein Verweisungsantrag kann unabhängig vom Begriff der mündlichen Verhandlung jedenfalls nur so lange gestellt werden, bis das zur Entscheidung berufene Gericht den Partein in der mündlichen Verhandlung seine rechtliche Einschätzung und sei es nur in Teilbereichen, bekannt gegeben hat.
4. Ein Verhandeln in der Güteverhandlung führt jedoch nicht zum Verlust von Zuständigkeitsrügen, da diese nicht Teil der mündlichen Verhandlung bzw. Verhandlung zur Sache über den Rechtsstreit i.S.v. § 101 Abs. 1 S. 1 GVG ist.
5. Eine sofortige Beschwerde gegen den Verweisungsbeschluss ist zulässig und begründet.
Normenkette
GG Art. 101 Abs. 1 Sätze 1-2; GVG § 101 Abs. 1 S. 1, § 102 Sätze 1-2; ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6, § 137 Abs. 1, § 278 Abs. 2, § 279 Abs. 1 S. 1, § 281 Abs. 2 S. 2, § 567 Abs. 1 Nr. 2
Verfahrensgang
LG Hamburg (Beschluss vom 21.07.2011) |
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde der Antragstellerin wird der in der Kammersitzung am 21.7.2011 gefasste Beschluss des LG Hamburg, Zivilkammer 27, aufgehoben.
Die Zivilkammer 27 des LG Hamburg bleibt der zur Entscheidung des Rechtsstreits zuständige Spruchkörper. Die vorgenommene Verweisung an die zuständige Kammer für Handelssachen ist unwirksam.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerde Verfahrens nach einem Streitwert von EUR 5.000.
Gründe
1. Die von der Antragstellerin mit Schriftsatz vom 25.7.2011 erhobene (sofortige) Beschwerde gegen die Verweisung an die zuständige Kammer für Handelssachen ist statthaft und in zulässiger Weise erhoben worden.
a. Allerdings bestimmt § 102 Satz 1 GVG dass die Entscheidung über die Verweisung eines Rechtsstreits an die Kammer für Handelssachen grundsätzlich nicht anfechtbar ist. In Rechtsprechung und Literatur ist indes anerkannt, dass in bestimmten Fällen, insbesondere wenn durch willkürliche Annahme der Zuständigkeit entgegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG der gesetzliche Richter ausgeschaltet worden ist, ein gleichwohl getroffener Verweisungsbeschluss keine Bindungswirkung entfaltet (Zöller/Lückemann, ZPO, 28. Aufl., § 102 GVG, Rz. 4 + 6). In diesem Fall ist der Rechtsstreit bei dem ursprünglichen Spruchkörper fortzuführen. Eines Rechtsmittels bedarf es insbesondere dann nicht, wenn einer der beteiligten Spruchkörper gem. § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO den Kompetenzkonflikt dem gemeinsamen höheren Gericht zur Bestimmung der Zuständigkeit vorlegt.
b. Der Senat tritt der insbesondere im Zusammenhang mit § 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO entwickelten Auffassung bei, dass die fehlende Bindungswirkung der Verweisung in bestimmten Fällen aber auch ohne eine Vorlage an das höhere Gericht im Wege der außerordentlichen Beschwerde festgestellt werden kann, wenn ihr z.B. bei Willkür jede gesetzliche Grundlage fehlt (vgl. Thomas/Reichold, ZPO, 29. Aufl., § 281 Rz. 12; Münchener Kommentar - Prütting, ZPO, 3. Aufl., § 281 Rz. 41). Denn in diesem Fall besteht ein nachvollziehbares Interesse für die Partei, die fehlende Bindungswirkung festgestellt zu wissen, und zwar unabhängig davon, ob bzw. wann einer der beteiligten Spruchkörper diese Frage gem. § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO dem gemeinsamen höheren Gericht vorlegt (so auch: Fischer NJW 1993, 2417, 2420). Durch die Feststellung der fehlenden Bindungswirkung im Wege einer Beschwerdeentscheidung wird eine derartige Vorlage zudem gegenstandslos werden.
c. Der Antragstellerin beruft sich mit Ihrer Beschwerde darauf, im vorliegenden Fall sei die Verweisung an die Kammer für Handelssachen offensichtlich rechtswidrig, nämlich willkürlich erfolgt. Dementsprechend steht ihr der geltend gemachte Rechtsbehelf als sofortige Beschwerde entsprechend § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO zu. Die sofortige Beschwerde ist zulässig, insbesondere gem. § 569 Abs. 1 ZPO form- und fristgerecht eingelegt worden.
2. Die sofortige Beschwerde ist auch begründet. Die mit Sitzungsbeschluss des LG vom 21.7.2011 (das auf dem Protokoll abgedruckte Datum vom 7.7.2011 ist offensichtlich unrichtig) vorgenommene Verweisung des Rechtsstreits an die zuständige Kammer für Handelssachen ist im Widerspruch zu der gesetzlichen Regelung aus § 101 Abs. 1 Satz 1 GVG einerseits und zuglei...