Orientierungssatz
Orientierungssätze:
1. Zeigt eine Wechsellichtzeichenanlage aufgrund einer Funktionsstörung dauerhaft Rotlicht, so ist die darin liegende Halteanordnung i.S.d. § 44 VwVfG nichtig. Die irrtümliche Annahme einer solchen Funktionsstörung stellt sich als vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum dar, so dass jedenfalls eine Verurteilung wegen vorsätzlichen Rotlichtverstoßes ausscheidet. Dies gilt nicht nur für Kraftfahrer, sondern für alle Verkehrsteilnehmer, für die die betroffene Wechsellichtzeichenanlage Geltung beansprucht (hier: Radfahrende, § 37 Abs. 2 Nr. 6 S. 1 StVO).
2. Ist eine Wechsellichtzeichenanlage mit einer Bedarfsschaltung mittels Kontaktschleife versehen und ist diese technisch so ausgelegt, dass die Bedarfsanfrage - trotz Geltungsanspruchs der Lichtzeichenanlage auch für Radfahrende (§ 37 Abs. 2 Nr. 6 S. 1 StVO) - durch Radfahrende nicht ausgelöst werden kann, so ist die im Rotlicht dieser Anlage liegende Halteanordnung für Radfahrende (teil-)nichtig i.S.d. § 44 VwVfG.
3. Eine Verurteilung wegen eines - vorsätzlich oder fahrlässig begangenen - Rotlichtverstoßes ist ausgeschlossen, wenn die vom Betroffenen missachtete Rotlicht-Halteanordnung i.S.d. § 44 VwVfG nichtig war. Darauf, ob der Betroffene die zur Nichtigkeit führenden Umstände in der konkreten Verkehrssituation erkennen konnte, kommt es insoweit nicht an.
Verfahrensgang
AG Hamburg-Blankenese (Entscheidung vom 26.01.2023; Aktenzeichen 512 OWi 336/22) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Hamburg-Blankenese vom 26.1.2023 einschließlich der Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an das Amtsgericht Hamburg-Blankenese zurückverwiesen.
Gründe
Die Rechtsbeschwerde, die der Senat mit Beschluss vom 15.06.2023 zur Fortbildung des Rechts zugelassen hat und die sich auch im Übrigen als zulässig erweist, ist in der Sache begründet.
1. Das Amtsgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen: Die Betroffene befuhr am 24.07.2022 gegen 20:15 Uhr als Radfahrerin die Straße A. in Richtung Süden und hielt vor der für sie Rotlicht zeigenden Lichtzeichenanlage an der Kreuzung zur Straße R.. Vor der Lichtzeichenanlage, die nicht defekt war, aber mit einer Kontaktschleife ausgestattet ist, wartete die Betroffene mehrere Minuten lang, ohne dass die Lichtzeichenanlage auf Grün umschaltete. Wie lange die Betroffene genau wartete, konnte das Amtsgericht nicht feststellen; es ging jedoch zu Gunsten der Betroffenen davon aus, dass die Wartezeit zumindest 5 Minuten betrug. Da die Betroffene einen Defekt der Lichtzeichenanlage vermutete, überquerte sie die Kreuzung bei Rot. Zu einer Gefährdung der Betroffenen oder anderer Verkehrsteilnehmer kam es dadurch nicht. Die Betroffene hätte die Möglichkeit gehabt, abzusteigen und die Kreuzung mit Hilfe einer auf der rechten Seite befindlichen, mit einem Anfrageknopf ausgestatteten Fußgängerbedarfsampel zu überqueren.
Das Amtsgericht hat das Tatgeschehen als vorsätzlichen, qualifizierten Rotlichtverstoß gem. §§ 37 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 und 6, 49 Abs. 3 Nr. 2 StVO i.V.m. § 24 StVG gewertet und hat gegen die Betroffene eine Geldbuße in Höhe von € 100,00 verhängt. In den Urteilsgründen hat es ausgeführt, dass der Fall nicht vergleichbar sei mit den Fällen, in denen ein Kraftfahrer bei einer defekten Lichtzeichenanlage nach minutenlangem Warten an einer nicht auf Grün umspringenden Ampel vorsichtig in die Kreuzung hineinfahren darf: Zum einen sei die Lichtzeichenanlage vorliegend nicht defekt gewesen. Aber auch wenn die Betroffene hiervon ausgegangen sei, habe sie als Radfahrerin die Kreuzung nicht bei Rot überqueren dürfen, denn anders als einem Kraftfahrer sei es ihr möglich gewesen, vom Fahrrad abzusteigen und die nur wenige Meter entfernte Fußgängerampel zu betätigen und zu benutzen.
2. Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
a) Eine Verurteilung wegen vorsätzlichen Rotlichtverstoßes ist schon auf der Grundlage der amtsgerichtlichen Feststellungen ausgeschlossen, denn danach hat sich die Betroffene in einem den Vorsatz ausschließenden Tatbestandsirrtum befunden:
Nach inzwischen einhelliger Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum, der der Senat folgt, handelt es sich bei dem von einer Lichtzeichenanlage gezeigten Rotlicht um einen Verwaltungsakt in Form einer Allgemeinverfügung, der den betroffenen Verkehrsteilnehmern gebietet, vor der Kreuzung zu halten (§ 37 Abs. 2 Nr. 1 S. 7 StVO). Zeigt eine Wechsellichtzeichenanlage allerdings aufgrund einer technischen Funktionsstörung dauerhaft Rot, so ist der darin liegende Verwaltungsakt nichtig i.S.d. § 44 VwVfG, weil die Dauer des gezeigten Rotlichts in diesem Fall nicht mehr auf dem vom menschlichen Willen getragenen Schaltplan - der Programmierung durch die Verkehrsbehörde - beruht und sich die Unsinnigkeit eines "Dauerrot"-Gebotes ohne weiteres aufdrängt (OLG Köln, Beschluss vom 29.04.1980 - 1 Ss 1037 B 7/79 ...