Leitsatz (amtlich)
Kommt es in unmittelbarem und zeitlichem Zusammenhang zu einem Verstoß des Einfahrenden gegen § 10 StVO und gegen § 9 Abs. 1, Abs. 5 StVO, ohne dass die besondere Gefährlichkeit des Einfahrvorgangs aufgehoben ist, und wird der auf der Straße herannahende Fahrer zu einem Ausweichen herausgefordert, liegt darin kein Überholen bei unklarer Verkehrslage im Sinne von § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO und die Betriebsgefahr des Herannahenden tritt hinter der doppelten Gefährlichkeit des Fahrvorgangs des Einfahrenden vollständig zurück.
Normenkette
StVG § 17; StVO § 5 Abs. 3, § 9 Abs. 1, 5, § 10
Verfahrensgang
LG Bielefeld (Aktenzeichen 8 O 124/21) |
Tenor
Der Senat beabsichtigt, die Berufung der Beklagten gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückzuweisen.
Es ist ferner beabsichtigt, den Streitwert für das Berufungsverfahren auf bis zu 9.000,00 EUR festzusetzen.
Es wird Gelegenheit gegeben, binnen drei Wochen nach Zugang dieses Beschlusses Stellung zu nehmen.
Gründe
I. Mit ihrer Berufung wenden sich die Beklagten gegen die vom Landgericht zu ihren Lasten gemäß §§ 17 Abs. 1, Abs. 2, 18 Abs. 3 StVG angenommene Haftungsquote von 100 % für die Folgen des Verkehrsunfalls. Sie sind der Auffassung, eine abweichende Haftungsverteilung, nämlich nur von 1/3 zu ihren Lasten, sei angemessen. Hiermit dringen sie nicht durch.
Der Senat ist vielmehr einstimmig davon überzeugt, dass die Berufung der Beklagten offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg verspricht. Das Urteil des Landgerichts beruht weder auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) noch rechtfertigen die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere für sie günstigere Entscheidung, § 513 Abs. 1 ZPO. Im Einzelnen:
II. Dem Kläger steht nach übereinstimmender Ansicht im Senat gegen die Beklagten als Gesamtschuldner der zugesprochene Anspruch auf Zahlung weiteren Schadensersatzes aus dem streitgegenständlichen Verkehrsunfallereignis gemäß §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, Abs. 2, 18 Abs. 1, Abs. 3 StVG; 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 4 VVG, 1 PflVG; 421 BGB zu.
1. Nach § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG hängt im Verhältnis der Fahrzeughalter zueinander die Verpflichtung zum Schadensersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, wie weit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, das heißt unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. In erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben. Ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (vgl. BGH Urt. v. 15.5.2018 - VI ZR 231/17, Rn. 10, beck-online). Darüber hinaus ist die konkrete Betriebsgefahr der beteiligten Kraftfahrzeuge von Bedeutung (vgl. Scholten in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 17 StVG (Stand: 01.12.2021), Rn. 27 ff.). Die Umstände, die die konkrete Betriebsgefahr des anderen Fahrzeugs erhöhen, insbesondere also dem anderen zum Verschulden gereichen, hat im Rahmen der nach § 17 StVG vorzunehmenden Abwägung jeweils der gegnerische Halter zu beweisen (Scholten in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 17 StVG (Stand: 01.12.2021), Rn. 78).
2. Nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme sind zu Lasten der Beklagten Verstöße des Beklagten zu 1) - wie das Landgericht zutreffend angenommen hat - gegen § 9 Abs. 1 Satz 4 und Abs. 5 und § 10 StVO in das Abwägungsverhältnis einzustellen.
Der Beklagte zu 1) hat sowohl beim Einfahren aus der Grundstückseinfahrt auf die Fahrbahn als auch beim anschließenden Abbiegen in die nur ca. 33 m entfernte weitere Grundstückseinfahrt die ihn treffenden hohen Sorgfaltsanforderungen nicht beachtet. Er war infolge der (hier doppelten) Gefährlichkeit seiner Fahrmanöver verpflichtet, jegliche Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen. Dieser Pflicht ist er nicht nachgekommen.
Nach § 10 StVO hat, wer aus einem Grundstück auf die Fahrbahn einfahren will, sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Hiergegen hat der Beklagte zu 1) verstoßen, indem er trotz des herannahenden Klägerfahrzeugs auf die Fahrbahn eingefahren ist, was wiederum den Kläger zu einem Ausweichen veranlasst hat. Dem steht nicht entgegen, dass sich die Kollision erst im Bereich der Einfahrt zur Firma A ereignet und der Beklagte zu 1) bis zum Abbiegen insgesamt etwa 33 m zurückgelegt hat. Die mit dem Einfahren aus der Grundstückseinfahrt auf die Fahrbahn regelmäßig verbundenen besonderen Gefahren, denen durch die erhöhten Sorgfaltsanforderungen nach § 10 StVO Rechnung zu tragen ist, wirkten über die Beendigung des eigentlichen Einbiegevorgangs durch Wiederaufnahme der Geradeausfahrt weiter fort.
Die besondere und anhaltende Gefährlichkeit des Fahrmanövers des Beklagten zu 1) ergibt sich daraus, dass der Beklagte zu 1)...