Leitsatz (amtlich)
1. Der den für seine Fahrtrichtung nicht freigegebenen Radweg benutzende Fahrradfahrer behält gegenüber aus untergeordneten Straßen einbiegenden Verkehrsteilnehmern das Vorfahrtsrecht.
2. Der Fahrradfahrer muss sich in diesen Fällen gem. § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB ein anspruchsminderndes Mit- bzw. Eigenverschulden entgegenhalten lassen, weil er durch sein Verhalten gegen § 2 Abs. 4 S. 2 StVO verstoßen hat.
3. Der Verzicht auf einen Fahrradhelm begründet auch für einen Unfall aus dem Jahre 2013 keine Anspruchskürzung.
4. Die Verletzung des Vorfahrtsrechts und die Benutzung eines nicht für die konkrete Fahrtrichtung freigegebenen Radwegs rechtfertigt eine Haftungsverteilung von 1/3 zu 2/3 zu Lasten des des die Vorfahrt verletzenden Kraftfahrers.
Normenkette
StVG §§ 7, 9; BGB § 254 Abs. 1; StVO §§ 8, 2 Abs. 4 S. 2
Verfahrensgang
LG Essen (Aktenzeichen 9 O 322/15) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 30.09.2016 verkündete Urteil des Einzelrichters der 9. Zivilkammer des Landgerichts Essen teilweise abgeändert.
Die Ansprüche der Klägerin auf Ersatz ihres materiellen Schadens aus dem Verkehrsunfall vom 08.11.2013 auf der Q-Straße/L-Straße in O sind dem Grunde nach zu 2/3 gerechtfertigt.
Der Anspruch der Klägerin auf Ersatz ihres immateriellen Schadens aus dem Verkehrsunfall vom 08.11.2013 auf der Q-Straße/L-Straße in O ist in angemessener Höhe unter Berücksichtigung eines mit 1/3 zu bemessenden Eigenverschuldensanteil der Klägerin dem Grunde nach gerechtfertigt.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin unter Berücksichtigung eines Mit- bzw. Eigenverschuldens von 1/3 sämtliche zukünftigen materiellen und zukünftigen nicht vorhersehbaren immateriellen Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 08.11.2013 auf der Q-Straße/L-Straße in O zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.
Die weitergehende Klage wird bzw. bleibt abgewiesen.
Die weitergehende Berufung der Beklagten und die Anschlussberufung der Klägerin werden zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Beklagten zu 2/3 und die Klägerin zu 1/3.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Den Parteien wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe
I. Die Klägerin begehrt Ersatz ihres materiellen und immateriellen Schadens anlässlich eines Verkehrsunfalls vom 08.11.2013 gegen 16:45 h in O im Einmündungsbereich der Straße C mit der übergeordneten Q-Straße, die ab dem Einmündungsbereich als L-Straße fortgeführt wird. An dem Unfall waren die Klägerin als Fahrradfahrerin und der Beklagte zu 1 mit seinem bei der Beklagten zu 2 krafthaftpflichtversicherten Fahrzeug Mercedes beteiligt. Die Klägerin befuhr den für ihre Fahrtrichtung kurz vor der links einmündenden Straße C nicht mehr frei gegebenen gemeinsamen Geh- und Radweg, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite für ihre Fahrtrichtung fortgeführt wird. Sie beabsichtigte, vom gemeinsamen Geh- und Radweg nach links in die Straße C einzubiegen. Der Beklagte zu 1 stand mit seinem Fahrzeug vor dem quer vor ihm verlaufenden Geh- und Radweg und beabsichtigte nach rechts in die Q-Straße abzubiegen. Nahezu gleichzeitig begann der Beklagte zu 1 seinen Abbiegevorgang nach rechts, während die Klägerin die Straße vor dem Beklagten zu 1 passieren wollte. Im Einmündungstrichter kollidierten der Mercedes und die Klägerin. Diese fiel infolge des Zusammenstoßes auf die Motorhaube und rutschte sodann, das Fahrrad zwischen den Beinen, auf die Straße. Dabei schlug sie mit dem unbehelmten Kopf auf die Straßenoberfläche auf und erlitt schwerste Verletzungen. Bevor der Mercedes zum Stillstand kam, schob er das Fahrrad und die Klägerin noch über eine Strecke von 3 bis 5 m über die Fahrbahn.
Die Klägerin hat erstinstanzlich die Ansicht vertreten, der Beklagte zu 1 habe nicht nur ihr Vorfahrtsrecht verletzt, sondern zudem schuldhaft zu spät auf die Kollision reagiert, weil er sein Fahrzeug nicht sofort gestoppt habe. Daher hafteten die Beklagten in vollem Umfang für die ihr entstandenen Schäden.
Die Beklagten haben erstinstanzlich gemeint, lediglich zu 20% für die Unfallfolgen einstehen zu müssen. Soweit vorgerichtlich Ansprüche der Klägerin unter Zugrundelegung einer Quote von 40% reguliert worden seien, sei dies ohne Anerkennung einer Rechtspflicht für den Fall der außergerichtlichen Erledigung erfolgt.
Das Landgericht hat zum Unfallgeschehen Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin N. Eine Anhörung der Klägerin und des Beklagten zu 1 unterblieb mit Blick auf deren Verhandlungsunfähigkeit.
Durch das angefochtene Grund- und Teilurteil, auf das gem. § 540 ZPO Bezug genommen wird, soweit sich aus dem Nachstehenden nichts anderes ergibt, hat das Landgericht die materiell...