Leitsatz (amtlich)
1. Bei einem Kettenauffahrunfall kommt ein Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Verursachung des Heckaufpralls durch den letzten in der Kette auffahrenden Verkehrsteilnehmer nur dann in Betracht, wenn feststeht, dass das ihm vorausfahrende Fahrzeug des Geschädigten rechtzeitig hinter seinem Vordermann zum Stehen gekommen ist und nicht durch einen Aufprall auf das vorausfahrende Fahrzeug den Bremsweg des ihm folgenden Fahrzeugs verkürzt hat.
2. Führen bei einem Kettenauffahrunfall die Schäden im Front- und Heckbereich des geschädigten Kraftfahrzeugs zu einem wirtschaftlichen Totalschaden und ist nicht feststellbar, ob der Frontschaden durch das Auffahren des nachfolgenden Fahrzeugs verursacht wurde, kann der gegen den Auffahrenden begründete Schaden betreffend den Heckanstoß nach § 287 ZPO durch die quotenmäßige Aufteilung des Gesamtschadens, gemessen am Verhältnis der jeweiligen Reparaturkosten, ermittelt werden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn nicht die Verursachung auch des Frontschadens durch den Auffahrenden weniger wahrscheinlich ist als die Entstehung des Frontschadens unabhängig vom Heckaufprall.
Normenkette
ZPO §§ 286-287
Verfahrensgang
LG Münster (Urteil vom 17.04.2013; Aktenzeichen I-6 U 101/13, 016 O 269/11) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten zu 1) und 2) wird das am 17.4.2013 verkündete Urteil des LG Münster unter Zurückweisung des weiter gehenden Rechtsmittels abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 2.639,36 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinsatz seit dem 26.7.2011 zu zahlen.
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, den Kläger von vorgerichtlichen Kosten der Rechtsanwälte C i.H.v. 316,18 EUR freizustellen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen die Beklagten 1/4, der Kläger 3/4. Die Kosten der Berufung werden gegeneinander aufgehoben.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Wert des Streitgegenstandes für die Berufung wird endgültig auf 5.267,48 EUR festgesetzt.
Gründe
A. Von der Darstellung des Tatbestands wird gem. den §§ 540 II, 313a I 1 ZPO, 26 Nr. 8 EGZPO abgesehen.
B. Die zulässige Berufung der Beklagten hat teilweise Erfolg.
Die Beklagten haften für den dem Kläger durch das Unfallgeschehen vom 20.5.2011 in H entstandenen Heckschaden an seinem zum Unfallzeitpunkt von seiner Ehefrau gelenkten Fahrzeug mit einer Haftungsquote von 50 %. Das führt zu einem Ersatzanspruch des Klägers in der tenorierten Höhe.
I) Die anteilige Haftung der Beklagten folgt dem Grunde nach aus den §§ 7, 17, 18 StVG, 823 BGB i.V.m. § 115 VVG.
Der streitgegenständliche Unfall hat sich beim Betrieb des von der Beklagten zu 1) gesteuerten Fahrzeugs ereignet, welches bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert ist. Höhere Gewalt i.S.d. § 7 II StVG liegt nicht vor. Der Unfall war auch für keinen der daran beteiligten Fahrer auf Kläger- und Beklagtenseite unabwendbar i.S.v. § 17 III StVG, da keine Partei den ihr obliegenden Beweis dafür geführt hat, dass der Unfall unter Anwendung der an einen besonders umsichtigen Fahrer zu stellenden Anforderungen nicht hätte vermieden werden können. Die Beklagte zu 1) ist als letzte von insgesamt drei dem Fahrzeug des Zeugen T nachfolgenden Fahrzeugen auf das jeweils vorausfahrende Fahrzeug aufgefahren. Ob die ihr vorausfahrende Ehefrau des Klägers mit dem Fahrzeug des Klägers zuvor ebenfalls auf das ihr vorausfahrende Fahrzeug aufgefahren oder durch das Fahrzeug der Beklagten zu 1) aufgeschoben worden ist, kann nicht festgestellt werden. Insoweit wird zur Begründung auf die zutreffenden, mit dem Rechtsmittel und der Rechtsmittelerwiderung nicht angegriffenen, Ausführungen des LG in der angefochtenen Entscheidung verwiesen.
Danach hängt der Umfang der Haftung von der gem. § 17 I, II StVG vorzunehmenden Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge ab. Dabei können zu Lasten der jeweiligen Partei nur unstreitige oder bewiesene Umstände berücksichtigt werden. Das führt zu einer Haftungsquote der Beklagten i.H.v. 50 %.
1) Auf Seiten der Beklagten zu 1) ist die Betriebsgefahr des bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Fahrzeugs zu berücksichtigen.
Diese Betriebsgefahr ist nicht durch ein Verschulden der Beklagten zu 1) erhöht. Insbesondere spricht nicht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass die Beklagte zu 1) gegen § 4 I 1 StVO verstoßen und einen zu geringen Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden Fahrzeug des Klägers eingehalten hat oder entgegen § 1 I StVO unaufmerksam gefahren ist oder zu spät reagiert hat.
a) Der in der Regel gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis für sein Verschulden ist bei Kettenauffahrunfällen wie dem vorliegenden nicht auf die innerhalb der Kette befindlichen Kraftfahrer anwendbar, weil häufig nicht feststellbar ist, wer auf wen aufgefahren ist und wer wen auf das vorausfahrende Fahrzeug aufgeschoben hat (vgl. OLG Hamm, Urt. v. 24.3.2010 - 13 U 125/09 -, abgedr....