Leitsatz (amtlich)
1. Während bei Auffahrunfällen zwischen zwei Fahrzeugen der Beweis des ersten Anscheins in der Regel dafür spricht, dass der Auffahrende entweder nicht den nötigen Sicherheitsabstand eingehalten oder seine Fahrgeschwindigkeit nicht der Verkehrssituation angepasst hat oder es an der erforderlichen Aufmerksamkeit hat fehlen lassen, ist regelmäßig bei "Kettenauffahrunfällen", an denen mehrere Fahrzeuge beteiligt sind, eine erschwerte Beurteilungsgrundlage gegeben.
2. Eine Anscheinsvermutung für eine schuldhafte Verursachung des Heckaufpralls durch den letzten in der Kette auffahrenden Verkehrsteilnehmer kommt grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn feststeht, dass das vorausfahrende Fahrzeug rechtzeitig hinter seinem Vordermann zum Stehen gekommen wäre.
3. Fährt bei einem Kettenauffahrunfall zuerst das hintere Fahrzeug auf das mittlere auf, steht aber nicht fest, dass das mittlere Fahrzeug ohne diesen Anstoß ein Auffahren auf das vordere Fahrzeug hätte verhindern können, haften die für das hintere Fahrzeug Verantwortlichen nur für die Heckschäden des mittleren Fahrzeugs.
Verfahrensgang
LG Mainz (Aktenzeichen 4 O 58/17) |
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das am 11.01.2019 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 4. Zivilkammer des Landgerichts Mainz, Az.: 4 O 58/17, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 9.360,77 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 30.12.2016 zu zahlen.
2. Die Beklagten werden weiter als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin außergerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 901,31 EUR zu zahlen.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
III. Von den Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen tragen die Klägerin 62 % und die Beklagten als Gesamtschuldner 38 %.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I. Die Klägerin nimmt die Beklagten als Gesamtschuldner auf Ersatz des materiellen Schadens in Anspruch, der ihr anlässlich eines Verkehrsunfalls vom xx.xx.2016 auf dem linken Fahrstreifen der Autobahn A63 an ihrem von dem Zeugen E. geführten Kfz entstanden ist. Bei diesem Unfallereignis kollidierte das Klägerfahrzeug Audi Q5 - gefolgt von dem Pkw Ford Fusion des Beklagten zu 2. - mit dem Heck des vorausfahrenden, von dem Zeugen H. gesteuerten Fahrzeug BMW, als dieses zum Überholen eines Lkws auf die linke Fahrspur wechselte und sogleich abgebremst wurde, weil ein vor dem BMW fahrender Kleintransporter oder VW-Bus, dessen Fahrer sich unerkannt von der Unfallstelle entfernt hat, ebenfalls zum Überholen des Lkws auf die linke Fahrspur wechselte. Der Beklagte zu 2. fuhr mit seinem Pkw auf das Heck des klägerischen Fahrzeugs auf. Sowohl am Heck als auch im Frontbereich des Klägerfahrzeugs entstanden Sachschäden, so dass dieses insgesamt einen "wirtschaftlichen Totalschaden" erlitt. Die genaue zeitliche Reihenfolge, in der es zu den jeweiligen Zusammenstößen der unfallbeteiligten Fahrzeuge kam, ist zwischen den Parteien streitig und bildet u.a. den Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits.
Die Klägerin behauptet, der Zeuge E. wäre in der Lage gewesen, das von ihm gesteuerte Fahrzeug ohne Kollision mit dem vorausfahrenden Pkw des Zeugen H. rechtzeitig und sicher zum Stillstand zu bringen, wenn nicht der Beklagte zu 2. wegen eines zu geringen rückwärtigen Abstands und/oder einer verspäteten Reaktion auf das Klägerfahrzeug aufgefahren wäre und dieses durch den Anstoß beschleunigt hätte.
Auf die tatsächlichen Feststellungen im Tatbestand des angefochtenen Urteils wird zur weiteren Sachdarstellung Bezug genommen.
Die Klägerin hat in erster Instanz beantragt,
die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an sie 24.615,23 EUR nebst jährlichen Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hierauf seit dem 30.12.2016 sowie außergerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 1.056,40 EUR zu zahlen.
Die Beklagten haben beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Landgericht hat die Klage nach Anhörung des Beklagten zu 2. als Partei und Vernehmung des Zeugen E. sowie die Einholung eines verkehrsanalytischen Sachverständigengutachtens des Sachverständigen für Fahrzeugtechnik und Unfallanalyse Dipl.-Ing. H. im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, es sei nicht erwiesen, dass das klägerische Fahrzeug durch das nachfolgende, von dem Beklagten zu 2. geführte Kfz auf den vorausfahrenden BMW des Zeugen H. aufgeschoben worden sei. Auch eine schuldhafte Herbeiführung des Heckanstoßes durch den Beklagten zu 2. sei nicht bewiesen, da nicht auszuschließen sei, dass durch die Kollision zwischen dem klägerischen Pkw und dem vorausfahrenden BMW des Zeugen H. der Bremsweg für den Beklagten zu 2. erheblich verkürzt worden sei.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung der Klägerin, die unter Wiederholung, Vertiefung und Ergänzung ihres erstinstanzlichen Vorbringens ihr Klagebegehren weiterverfolg...