Entscheidungsstichwort (Thema)
Rettungskosten nach Vollbremsung und Fahrzeugschaden durch Ladung
Leitsatz (amtlich)
1. Beschädigt bei einer verkehrsbedingt erforderlichen Vollbremsung die Ladung das Fahrzeug, können die dadurch verursachten Schäden ersatzpflichtige Rettungskosten sein.
2. Ein in der Vollkaskoversicherung vereinbarter Selbstbehalt ist dann nicht abzuziehen.
Verfahrensgang
LG Essen (Urteil vom 19.11.2003; Aktenzeichen 1 O 127/03) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 19.11.2003 verkündete Urteil der 1. Zivilkammer des LG Essen abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 13.150,12 Euro nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz ab 23.11.2002 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I. Die Klägerin begehrt mit Rücksicht auf eine bei der Beklagten genommene Vollkaskoversicherung einen Betrag von 13.150,12 Euro nebst Zinsen als Rettungskosten (§ 63 VVG).
Sie hat behauptet, am 15.11.2002 habe der Zeuge G. die versicherte Zugmaschine mit einem geschlossenen, verplombt übernommenen Auflieger auf der Autobahn vor Budapest gefahren. Von einem Parkplatz sei plötzlich ein Lkw auf die Fahrspur des Zeugen gefahren. Der Zeuge habe eine Vollbremsung durchführen müssen, um ein Auffahren zu vermeiden. Dabei sei die Ladung des Aufliegers gegen die Hinterwand des Zugfahrzeugs geprallt und habe diese beschädigt. An der Zugmaschine bestand unstreitig ein Schaden in Höhe des o.g. Betrages.
Die Beklagte hat das Geschehen bestritten. Hilfsweise hat sie geltend gemacht, die Rettung der Zugmaschine sei eine bloße Reflexwirkung einer unwillkürlichen Reaktion des Zeugen gewesen. Der Zeuge habe bei der Bremsung allenfalls an seine körperliche Unversehrtheit gedacht, nicht aber daran, eine Beschädigung der Zugmaschine zu vermeiden. Zumindest müsse sich die Klägerin eine vereinbarte Selbstbeteiligung von 500 Euro abziehen lassen.
Das LG hat den Zeugen G. vernommen. Dieser hat den Vortrag der Klägerin zum äußeren Geschehen bestätigt und im Übrigen im Kern bekundet, er habe gebremst, um sein Leben zu retten. Das LG hat daraufhin die Klage mit der Begründung abgewiesen, die Rettung der Zugmaschine sei in der Tat eine bloße Reflexwirkung der Handlung des Zeugen gewesen. Wegen der Einzelheiten der Begründung sowie des Sach- und Streitstandes in erster Instanz wird auf das angefochtene Urteil Bezug genommen. Ferner wird auf das Protokoll der Vernehmung des Zeugen verwiesen.
Der Kläger verfolgt mit der Berufung seinen erstinstanzlichen Antrag weiter.
Die Beklagte verteidigt das Urteil.
II. Die Berufung ist begründet.
1. Der Kläger hat einen Anspruch aus § 63 Abs. 1 S. 1 VVG auf Erstattung des an der Zugmaschine entstandenen Schadens.
a) Der Senat ist aufgrund der Aussage des Zeugen G. vor dem LG davon überzeugt, dass der Schaden durch eine Vollbremsung entstand, welche der Zeuge durchführen musste, um ein Auffahren seines Gespanns auf den plötzlich auf seine Spur gefahrenen Lkw zu vermeiden. Das LG hat die Angaben des Zeugen ausdrücklich als glaubhaft bezeichnet; der Senat folgt dieser Würdigung. Die Beklagte hat dagegen auch keine Einwände mehr erhoben.
b) Hiernach handelt es sich bei dem Schaden an der Zugmaschine um Aufwendungen, welche die Beklagte nach § 63 VVG zu ersetzen hat.
aa) Der Zeuge durfte die Vollbremsung zur Abwendung eines Auffahrens und damit zur Abwendung eines versicherten Schadens für erforderlich halten (§§ 63 Abs. 1 S. 1, 62 Abs. 1 S. 1 Halbs. 1 VVG). Das Auffahren stand, was für einen Anspruch auf Erstattung von Rettungskosten genügt, unmittelbar bevor (vgl. dazu nur BGH v. 20.2.1991 - IV ZR 202/90, BGHZ 113, 359 = MDR 1991, 1042 = VersR 1991, 359; v. 25.6.2003 - VI ZR 276/02, BGHReport 2003, 1250 = MDR 2003, 1175 = VersR 2003, 1250). Der Schaden an der Zugmaschine ist auch als unfreiwillige Vermögensminderung eine Aufwendung i.S.d. § 63 VVG. Dass der Zeuge nicht selbst Versicherungsnehmer war, ist unerheblich (vgl. BGH v. 25.6.2003 - IV ZR 276/02, BGHReport 2003, 1250 = MDR 2003, 1175 = VersR 2003, 1250).
bb) Entgegen der Auffassung der Beklagten handelte es sich bei der Vornahme der Vollbremsung nicht um eine willensunabhängige Reflexbewegung des Zeugen im Sinne einer rein instinktiven Schreckreaktion, sondern um eine vom Willen beherrschbare Handlung, sei es auch, dass der Entschluss dazu spontan und im Unterbewusstsein erfolgte. Auch ein solches spontanes Handeln kann Rettungsmaßnahme i.S.d. § 63 VVG sein (ebenso etwa OLG Jena v. 7.3.2001 - 4 U 893/00, VersR 2001, 855, unter 2; Römer in Römer/Langheid, VVG, 2. Aufl., § 63 Rz. 5; Knappmann, VersR 1989, 113 ff. Fn. 12 f.; vgl. auch OLG Koblenz r+s 2000, 97, unter II 1b).
cc) § 63 Abs. 1 S. 1 VVG setzt ferner voraus, dass die Handlung, deretwegen Ersatz begehrt wird, zu dem Zweck erfolgte, die versicherte Sache vor Schaden zu bewahren. Dabei genügt es aber nach allgemeiner Meinung, wenn die Rettungshandlung objektiv auf die Abwendung des versicherten Schadens abzielte; nicht erforderlich...