Entscheidungsstichwort (Thema)
Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in natürlicher Handlungseinheit. Polizeiflucht
Leitsatz (amtlich)
1. Vereitelt der Täter im Rahmen einer Fluchtfahrt vor der Polizei in dem Willen, einen Zugriff der ihn verfolgenden Beamten zu verhindern, eine Vielzahl von Anhaltebemühungen und Überholversuchen der eingesetzten Polizeibeamten, kommt es im Verlauf der Verfolgungsjagd zu mehreren (Beinahe-)Unfällen des Fluchtfahrzeugs zum Nachteil der ihn verfolgenden Streifenwagen wie auch zu Lasten anderer Verkehrsteilnehmer und steuert der Täter letztlich sein Fahrzeug mit der Folge einer - durch einen Insassen des Streifenwagens körperlich empfundenen - Kollision in Richtung eines der ihn verfolgenden Polizeifahrzeuge, liegt ein Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte im Sinne einer - die weiteren im Verlauf der Fahrt begangenen (Verkehrs-)Delikte umklammernden - natürlichen Handlungseinheit vor.
2. Für die Annahme des subjektiven Tatbestandes des § 113 Abs. 1 StGB ist es nicht erforderlich, dass sich der Täter gegen die Insassen des Streifenwagens in ihrer Eigenschaft als Polizisten wenden will oder die Kollision absichtlich herbeiführt. Vielmehr ist eine (bedingt) vorsätzliche Widerstandsleistung bereits dann zu bejahen, wenn der Täter die infolge seiner Lenkbewegung eingetretene Gewalteinwirkung als aus seiner Sicht notwendiges Zwischenziel anstrebt, um seine Flucht fortsetzen zu können.
3. Ein tätlicher Angriff i. S. v. § 114 Abs. 1 StGB ist eine mit feindseligem Willen unmittelbar auf den Körper des Beamten oder Soldaten zielende Einwirkung. Eine körperliche Berührung oder auch nur ein darauf zielender Vorsatz des Täters ist nicht erforderlich. Jedenfalls eine objektiv gefährliche, verletzungsgeeignete Handlung kann auch dann, wenn der Täter keinen Verletzungsvorsatz hat, ein tätlicher Angriff sein. (Anschluss an Senatsbeschluss vom 12.02.2019 - 4 RVs 9/19 und Senatsurteil vom 10.12.2019 - 4 RVs 88/19). Die Annahme einer solchen objektiv gefährlichen, verletzungsgeeigneten Handlung liegt auf der Hand, wenn der Täter im Rahmen einer Verfolgungsfahrt mit mehreren, mit hoher Geschwindigkeit teilweise sehr nah nebeneinander fahrenden Fahrzeugen, sein Fahrzeug in Richtung eines Streifenwagens steuert.
Normenkette
StGB § 113 Abs. 1, 2 S. 2 Nr. 1, § 114 Abs. 1-2, § 142 Abs. 1 Nr. 1, § 303 Abs. 1, § 315c Abs. 1 Nr. 1 a), § 2 a), § 2 b) Abs. 3 Nr. 1, § 315d Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2, § 11 Abs. 2, § 52
Verfahrensgang
LG Detmold (Aktenzeichen 22 NBs 23/23) |
Tenor
Das angefochtene Urteil wird im Schuldspruch dahingehend ergänzt, dass der Angeklagte auch wegen tateinheitlich begangenen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und wegen tateinheitlich begangenen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte verurteilt wird.
Das angefochtene Urteil wird im Rechtsfolgenausspruch mit den insoweit zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache im Umfang der Aufhebung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsmittels - an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Detmold zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht - Schöffengericht - Lemgo hat den Angeklagten mit Urteil vom 22.02.2023 (21 Ls-21 Js 80/22-11/22) - unter Einbeziehung der Strafe aus dem Strafbefehl des AG Bielefeld vom 18.11.2021 (Cs 201 Js 1585/21 - wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung jeweils in Tateinheit mit versuchtem Angriff auf Vollstreckungsbeamte, unerlaubtem Entfernen vom Unfallort, Sachbeschädigung, vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs, gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr und verbotenem Kraftfahrzeugrennen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt.
Von der Bildung einer Gesamtstrafe mit der Strafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Bielefeld vom 18.11.2021 hat das Amtsgericht abgesehen und ferner die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt sowie eine Sperre für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis von vier Jahren angeordnet.
Auf die Berufung des Angeklagten vom 27.02.2023 hat das Landgericht Detmold mit Urteil vom 07.11.2023 (22 NBs-21 Js 80/22-23/23) das Urteil des Amtsgerichts Lemgo "abgeändert" und den Angeklagten wegen vorsätzlicher Straßenverkehrsgefährdung in Tateinheit mit einem verbotenen Kraftfahrzeugrennen, Sachbeschädigung und unerlaubtem Entfernen vom Unfallort zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt.
In diesem Urteil hat das Landgericht Detmold folgende Feststellungen zur Sache getroffen:
"Am Abend des 00.00.2021 konsumierte der Angeklagte, der bei Freunden eingeladen war, Alkohol und Kokain in im Einzelnen jeweils nicht mehr feststellbarer Menge. Am frühen Morgen des 00.00.2021 machte er sich mit dem auch für seinen Betrieb genutzten Fahrzeug, einem N. mit dem amtlichen Kennzeichen N01, auf den Heimweg und befuhr dabei unter anderem gegen 00:15 Uhr die M.-straße aus S. kommend in Fahrtrichtung zur G.-straße (L N02) hin. Der Angek...