Leitsatz (amtlich)
1. Rücksichtslos i.S.v. § 315c Abs. 1 Nr. 2b, Abs. 3 Nr. 2 StGB handelt, wer sich zwar seiner Pflichten als Verkehrsteilnehmer bewusst ist, sich aber aus eigensüchtigen Gründen, etwa seines ungehinderten Fortkommens wegen, darüber hinwegsetzt, mag er auch darauf vertraut haben, dass es zu einer Beeinträchtigung anderer Personen nicht kommen werde, oder wer sich aus Gleichgültigkeit nicht auf seine Pflichten besinnt und Hemmungen gegen seine Fahrweise gar nicht erst aufkommen lässt und unbekümmert um die Folgen seiner Fahrweise drauflos fährt (Schönke/Schröder/Hecker, 30. Aufl. 2019, StGB § 315c Rn. 28 m.w.N.). Auf eine von Leichtsinn, Eigensucht, Gleichgültigkeit oder unverständlicher Nachlässigkeit geprägte üble Verkehrsgesinnung (Schönke/Schröder/Hecker, a.a.O., m.w.N.) kann nicht schon aus den äußeren Umständen geschlossen werden, wenn ein Verkehrsteilnehmer in einer leichten Rechtsbiegung der Bundesstraße bei einer einsehbaren Überholstrecke bis zu 250 Meter einen zu einer konkreten Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer führenden Überholvorgang durchführt, obwohl unter den konkreten Gegebenheiten zur gefahrlosen Durchführung des Überholvorgangs eine einsehbare Überholstrecke von wenigstens 320 Meter erforderlich gewesen wäre. Rücksichtslosigkeit kann auch nicht daraus geschlossen werden, dass der Verkehrsteilnehmer vor Durchführung des Überholvorgangs - in verkehrstypischer Weise - wiederholt bis an die gestrichelte Mittellinie heranfährt, um zur Verbesserung seiner Sicht an dem zu überholenden Lkw vorbeizuschauen.
2. Führt die Revision des Angeklagten unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur Rückverweisung der Sache an eine andere Berufungskammer, kann das Revisionsgericht in entsprechender Anwendung des § 126 Abs. 3 StPO die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO aufheben und den Führerschein an den Angeklagten herausgeben, wenn eine die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB tragenden Verurteilung nach Neuverhandlung der Sache eher fernliegt (Abgrenzung zu OLG Jena, Beschl. v. 18.3.2019 - 1 OLG 151 Ss 22/19, BeckRS 2019, 7473).
Normenkette
StGB § 315c Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b), Abs. 3 Nr. 2; StPO § 111a
Verfahrensgang
LG Karlsruhe (Entscheidung vom 10.03.2020; Aktenzeichen 9 Ns 120 Js 5027/19) |
Tenor
- Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Karlsruhe - 9. Strafkammer (Kleine Strafkammer) - vom 10. März 2020 (9 Ns 120 Js 5027/19) hinsichtlich der Tat Ziff. III.1. der Urteilsgründe im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben und im Schuldspruch dahingehend abgeändert, dass die Angeklagte eines fahrlässigen falschen Überholens schuldig ist. Hinsichtlich der Tat nach Ziff. III.2. der Urteilsgründe sowie im Gesamtstrafenausspruch und im Ausspruch über die Anordnung der Entziehung der Fahrerlaubnis nebst Einziehung des Führerscheins und Neuerteilungssperre wird das Urteil mit den hierzu gehörenden Feststellungen aufgehoben.
- Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision und gegebenenfalls über eine Entschädigung nach § 2 Abs. 2 S. 5 StrEG - an eine andere Strafkammer des Landgerichts Karlsruhe zurückverwiesen.
- Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis wird aufgehoben. Der bei den Akten befindliche Führerschein der Angeklagten ist herauszugeben.
Gründe
I.
Der Angeklagten liegt auf Grund der Anklage der Staatsanwaltschaft Karlsruhe vom 25.02.2019 im Wesentlichen zu Last, sie habe am 20.12.2018 gegen 16:00 Uhr auf der B 293 bei Bretten an einer unübersichtlichen Stelle mit ihrem Pkw einen Lkw überholt, wobei es beinahe zu einer Frontalkollision mit einem entgegenkommenden Pkw gekommen sei, der habe Bremsen und in die Böschung ausweichen müssen, um einen Zusammenprall zu vermeiden, so dass an dem Fahrzeug ein Sachschaden in Höhe von 3.500 € entstanden sei. Nachdem die Angeklagte ungeachtet dieses Geschehens ihre Fahrt fortgesetzt habe, sei sie von anderen Verkehrsteilnehmern, den Zeugen M. und K., nach ca. 2 km gestoppt und mit dem Unfallgeschehen konfrontiert worden. Hierauf habe die Angeklagte wenden und zurückfahren wollen. Der Zeuge M. habe dies verhindern wollen und sich vor den Pkw der Angeklagten gestellt. Die Angeklagte habe ihn gesehen und sei dennoch auf ihn aufgefahren, wodurch dieser über die Fahrbahn auf den gegenüberliegenden Grünstreifen geschleudert worden sei und eine Hüftprellung erlitten habe, auf Grund derer er bis 24.02.2019 arbeitsunfähig gewesen sei.
Durch Beschluss des Amtsgerichts Bretten vom 28.02.2019, der Angeklagten am 02.03.2019 zugestellt, wurde ihr vorläufig die Fahrerlaubnis entzogen. Durch Beschluss vom 22.03.2019 wurde das Hauptverfahren eröffnet und die Anklage der Staatsanwaltschaft Karlsruhe vom 25.02.2019 zugelassen. Hinsichtlich eines unerlaubten Entfernens um Unfallort wurde das Verfahren nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt.
Durch Urteil des Amtsgerichts Bretten vom 09.09.2019 (2 Ds 120 Js 5027/19) wurde die Angeklagte - unter Freispruch im Übrigen ...