Leitsatz (amtlich)

1. § 84 AMG begründet keine Haftung des Arzneimittelherstellers oder des das Medikament vertreibenden Unternehmers für solche Nebenwirkungen, die bereits bei der Zulassung bekannt und im Hinblick auf den Nutzen des Arzneimittels im Zulassungsverfahren hingenommen wurden, soweit in der Fachinformation und der Packungsbeilage darauf hingewiesen ist.

2. Ein bestimmungsgemäßer Gebrauch des Medikaments liegt bei einer Überdosierung um 200 % nicht mehr vor.

 

Normenkette

AMG §§ 5, 84

 

Verfahrensgang

LG Baden-Baden (Urteil vom 10.08.2007; Aktenzeichen 2 O 101/06)

 

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des LG Baden-Baden vom 10.8.2007 - 2 O 101/06 - wird zurückgewiesen.

II. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsrechtszugs.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Die Klägerin begehrt Schmerzensgeld und die Feststellung, dass die Beklagte, die als pharmazeutisches Unternehmen in Deutschland das Medikament "V." vertrieben hat, jeden weiteren materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen hat, der durch die bei ihr angeblich eingetretenen Nebenwirkungen des Medikamentes verursacht wurde, nämlich im Wesentlichen Haarausfall, Bluthochdruck, erhebliche Schmerzen im Oberbauch mit Ausstrahlung in den Rücken, Übelkeit, eine Bauchspeicheldrüsenentzündung und eine Schädigung der Niere, was eine monatelange Odyssee in Kliniken und bei Ärzten sowie einen Dauerschaden an der Niere und der Bauchspeicheldrüse zur Folge gehabt habe. Das LG, auf dessen Urteil wegen des Sach- und Streitstands und der getroffenen Feststellungen im ersten Rechtszug verwiesen wird, hat die Klage ohne Beiziehung der Krankenunterlagen und Einholung eines Sachverständigengutachtens abgewiesen, weil bereits aufgrund des klägerischen Vortrags ein Anspruch aus § 84 AMG nicht schlüssig dargetan sei.

Dagegen wendet sich die Klägerin unter Wiederholung und Vertiefung ihres Vortrags aus dem ersten Rechtszug mit ihrer Berufung, mit der sie in erster Linie die Zurückverweisung der Sache an das LG begehrt und hilfsweise ihr Klagbegehren in vollem Umfang weiter verfolgt. Sie ist insbesondere der Auffassung, das LG hätte im Rahmen des hier - ähnlich wie in Arzthaftungsprozessen - geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes aufgrund der Behandlungsunterlagen den genauen Sachverhalt erforschen müssen. Ferner sei die Ansicht des LG nicht haltbar, nur wegen der Überschreitung der empfohlenen Tageshöchstdosis sei kein bestimmungsgemäßer Gebrauch des Arzneimittels mehr gegeben. Gleiches gelte für die Auffassung des LG, es sei zwischen den Nebenwirkungen zu unterscheiden, die zur Rücknahme eines Medikaments vom Markt geführt hätten (hier unstreitig thrombotische, kardiovaskuläre Erscheinungen), weil sie im Verhältnis zum Nutzen des Medikaments unvertretbar seien, und den bei der Klägerin eingetretenen Nebenwirkungen, die im Zulassungsverfahren bekannt und als hinnehmbar angesehen worden seien.

Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Berufung und verteidigt das landgerichtliche Urteil. Wegen des Weiteren Sach- und Streitstands im zweiten Rechtszug wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen, wegen der Antragstellung auf die Sitzungsniederschrift vom 8.10.2008 (II 115).

II. Die Berufung der Klägerin ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Das angegriffene Urteil beruht weder auf einem Rechtsfehler (§ 546 ZPO) noch rechtfertigen die gem. § 529 ZPO zugrunde zu legenden Feststellungen eine anderweitige Entscheidung, § 513 ZPO.

I. Eine Haftung der Beklagten gem. § 84 Abs. 1 S. 1, S. 2 Nr. 1 AMG scheidet selbst bei Annahme, dass die Klägerin das Medikament bestimmungsgemäß gebraucht habe, unter den von ihr behaupteten Beschwerden litte und diese durch die Einnahme von V. verursacht worden wären, deshalb aus, weil die von ihr geltend gemachten Schäden nicht vom Schutzbereich der Norm erfasst würden. Die Klägerin hat nach ihrem Vortrag ausschließlich Gesundheitsschäden erlitten, die als mögliche Nebenwirkungen in der Fachinformation und der Packungsbeilage aufgeführt waren. Für diese Folgen haftet die Beklagte der Klägerin aber nicht nach Sinn und Zweck des § 84 Abs. 1. S. 1, S. 2 Nr. 1 AMG.

A. Dabei kann unterstellt werden, dass das Risiko für arterielle thrombotische kardiovaskuläre Ereignisse, die zur Rücknahme von V. vom Markt geführt haben, unvertretbare Nebenwirkungen des Medikaments darstellen. Dies führt entgegen der Auffassung der Klägerin jedoch nicht dazu, dass ein "unvertretbares Medikament" vorliege und der Unternehmer daher für alle Schäden, die durch dieses Medikament verursacht wurden, zu haften hätte. Das stellt eine unzulässige Auslegung der Haftungsnormen des Arzneimittelrechts dar. Nach § 84 Abs. 1 AMG haftet der Unternehmer dann, wenn das Arzneimittel, das im Geltungsbereich des Gesetzes an den Verbraucher abgegeben wurde und der Pflicht zur Zulassung unterliegt, die Gesundheit eines Menschen nicht unerheblich verletzt (S. 1), allerdings nur, wenn es (bei bestimmung...

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