Leitsatz (amtlich)
1. Eine Fahrkurvenerkennung, die bei Fahrzeugen mit dem Motor EA 288 und SCR-Katalysator (vorliegend ein VW Tiguan 4-motion 2.0 TDI 110 kW der Schadstoffklasse EU 6) bewirkt, dass - bei erkanntem Rollenprüfstand die Abgasrückführungsrate nach dem Zuschalten des SCR-Katalysators, anders als im Normalbetrieb, nicht reduziert wird, sondern unverändert hoch bleibt; - bei erkanntem Rollenprüfstand der SCR-Katalysator früher als im Normalbetrieb zur Abgasreinigung hinzugeschaltet wird und auf diese Weise (nur) auf dem Prüfstand günstigen Einfluss auf die (NOx-)Emissionswerte nimmt, stellt eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne der Art. 3 Nr. 10 und 5 Abs. 2 Satz 2 der VO (EG) Nr. 715/2007 dar, die grundsätzlich eine Haftung des Herstellers gem. § 823 Abs. 2 i.V.m. §§ 6 Abs. 1 und 27 Abs. 1 EG-FGV begründet.
2. Wird auf das Fahrzeug ein Software-Update aufgespielt, das diese Fahrkurvenerkennung entfernt, ist das geeignet, den durch die Pflichtverletzung entstandenen Schaden auszugleichen, sodass dem (zuvor) Geschädigten insoweit kein Schaden verbleibt.
3. Ein Thermofenster, das so ausgestaltet ist, dass die Abgasrückführung bei einer Außentemperatur zwischen -24°C bis +70°C zu 100 % aktiv ist und es innerhalb dieses Thermofensters und der darin jeweils aktiven Motorbetriebsarten keine kontinuierliche Abstufung in Abhängigkeit zur Außentemperatur gibt, erfüllt grundsätzlich nicht die Anforderungen an eine Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 3 Nr. 10 der VO (EG) Nr. 715/2007. Dabei ist davon auszugehen, dass zu den Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb im Unionsgebiet vernünftigerweise zu erwarten sind, jedenfalls Umgebungstemperaturen zwischen -15°C und +40°C gehören.
Normenkette
BGB § 823 Abs. 2, § 826; EG-FGV §§ 6, 27
Verfahrensgang
LG Karlsruhe (Urteil vom 07.10.2022; Aktenzeichen 3 O 65/22) |
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 07.10.2022 - 3 O 65/22 - wird zurückgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
III. Dieses Urteil und das angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
- ohne Sachverhaltsdarstellung gemäß §§ 540 Abs. 2, 313 Abs. 1 S. 1 ZPO -
Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Der Klägerin stehen keine Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte zu.
1. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Schadensersatzanspruch gemäß § 826 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung. Ein solcher Anspruch würde voraussetzen, dass das streitgegenständliche Fahrzeug VW Tiguan Lounge Sport & Style 4Motion BM 2.0 TDI (110 kW, Erstzulassungsdatum 04.02.2016) mit dem von der Beklagten hergestellten und in Verkehr gebrachten Dieselmotor der Schadstoffklasse EU 6 vom Typ EA 288 und SCR-Katalysator tatsächlich über die behaupteten unzulässigen Abschalteinrichtungen verfügt und dieser Umstand (in Ansehung einer oder mehrerer Abschalteinrichtungen) als sittenwidrig zu qualifizieren und der Klägerin deshalb ein Schaden entstanden ist. Das ist nicht der Fall.
a. Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann. Schon zur Feststellung der objektiven Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben. Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es ferner darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht (BGH, Beschluss vom 19. Januar 2021 - VI ZR 433/19 -, juris Rn. 14).
Nach diesen Grundsätzen kann ein objektiv sittenwidriges Handeln der Beklagten nicht allein daraus abgeleitet werden, dass im Fahrzeug der Klägerin Einrichtungen vorhanden sind, die die Abgasemissionen beeinflussen und möglicherweise als unzulässige Abschalteinrichtungen im Sinne von Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 zu qualifizieren sind (vgl. zur Rechtslage allgemein EuGH, Urteil vom 17. Dezember 2020 - C-693/18, NJW 2021, 1216 - CLCV u.a.). Der darin liegende Gesetzesverstoß wäre für sich genommen nicht geeignet, den Einsatz emissionsbeeinflussender Einrichtungen im Verhältnis zur Klägerin als besonders verwerflich erscheinen zu lassen. Hierfür bedürfte es vielmehr weiterer Umstände. Die Annahme von Sittenwidrigkeit setzt jedenfalls voraus, dass die verantwortlich han...