Entscheidungsstichwort (Thema)
Auffahrunfall nach möglicherweise grundlosem Abbremsen des Vordermanns
Leitsatz (amtlich)
1. Die abrupte Bremsung des vorausfahrenden Fahrzeugs ohne äußeren Anlass ändert bei einem Auffahrunfall grundsätzlich nichts an einem im Wege des Anscheinsbeweises festzustellenden schuldhaften Verkehrsverstoß des Hintermanns.
2. Bei einem Auffahrunfall trifft den auffahrenden Fahrzeugführer in der Regel eine Haftungsquote von 100 %. Die nicht ausgeräumte Möglichkeit, dass der Vordermann eventuell vorsätzlich aus "erzieherischen Gründen" abrupt gebremst hat, ändert daran nichts. Denn ein Verkehrsverstoß des vorausfahrenden Fahrzeugführers wäre nur dann zu berücksichtigen, wenn er nachgewiesen wäre.
Normenkette
StVG § 17 Abs. 2; StVG § 18 Abs. 1; StVO § 1 Abs. 2, § 4 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
LG Konstanz (Urteil vom 30.10.2015; Aktenzeichen 5 O 120/15) |
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des LG Konstanz vom 30.10.2015 - K 5 O 120/15 - aufgehoben.
2. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 5.161,55 EUR zu zahlen, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 11.279,16 EUR für die Zeit vom 23.01.2015 bis zum 11.03.2016, und aus 5.161,55 EUR für die Zeit ab dem 12.03.2016.
3. Die Beklagten werden weiter verurteilt, als Gesamtschuldner 6.117,61 EUR zu zahlen an die V. Versicherung - Zweigniederlassung der S. Versicherung AG - gesetzlich vertreten durch den Vorstandsvorsitzenden U. L., nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 12.03.2016.
4. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 805,20 EUR zu zahlen nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 15.05.2015.
5. Die Beklagten tragen die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen als Gesamtschuldner.
6. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
7. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Klägerin, die ein Taxi-Unternehmen unterhält, macht Schadensersatzansprüche nach der Beschädigung eines Taxis bei einem Verkehrsunfall vom 20.12.2014 geltend. Der Beklagte Ziffer 1 war Fahrer eines am Unfall beteiligten Pkw BMW. Die Beklagte Ziffer 2 ist die für dieses Fahrzeug zuständige Haftpflichtversicherung.
Der Zeuge Michael D. befuhr am 20.12.2014 gegen 21:30 Uhr mit einem Taxi der Klägerin die Bahnhofstraße in S. in westlicher Richtung. Ihm folgte der Beklagte Ziffer 1 mit seinem Pkw BMW. In der Nähe einer Verkehrsinsel, die sich dort in der Mitte der Straße befindet, führte der Zeuge D. eine starke Bremsung durch. Weitere Einzelheiten des Fahrmanövers sind streitig; ebenso ist streitig, inwieweit es für dieses Fahrmanöver einen verkehrsbedingten Anlass gab. Im Zusammenhang mit diesem Fahrmanöver fuhr der Beklagte Ziffer 1 mit seinem Fahrzeug auf das klägerische Taxi auf. Das Fahrzeug der Klägerin wurde beschädigt. Der Klägerin entstand unstreitig folgender Schaden:
Reparaturkosten netto: |
6.617,61 EUR |
Merkantile Wertminderung: |
350,00 EUR |
Gutachten-Rechnung: |
886,55 EUR |
Unkostenpauschale: |
25,00 EUR |
Verdienstausfall während der Reparatur (17 Tage à 200,00 EUR) |
3.400,00 EUR |
Summe: |
11.279,16 EUR. |
Die Klägerin hat erstinstanzlich geltend gemacht, für den Unfall sei allein der Beklagte Ziffer 1 verantwortlich, der entweder mit zu geringem Abstand hinter dem klägerischen Taxi gefahren sei, oder infolge Unaufmerksamkeit nicht rechtzeitig auf das Fahrmanöver des Zeugen D. reagiert habe. Dessen Bremsmanöver sei verkehrsbedingt gewesen, da eine Fußgängerin von einer in der Mitte der Straße befindlichen so genannten Querungshilfe auf die Fahrbahn getreten sei, um die Straße vor dem Fahrzeug des Zeugen D. zu überqueren. Die Klägerin hat erstinstanzlich von den Beklagten Schadensersatz in Höhe von 11.279,16 EUR nebst Zinsen und vorgerichtlichen Anwaltskosten verlangt.
Die Beklagten sind der Klage entgegengetreten. Die alleinige Verantwortung für den Unfall treffe den Zeugen D.. Für dessen Bremsmanöver habe es keinen verkehrsbedingten Grund gegeben. Eine Fußgängerin sei nicht vorhanden gewesen. Es habe vor dem Unfall, als beide Fahrzeuge im Bereich der Erzbergerstraße aus unterschiedlichen Richtungen in die Bahnhofstraße eingebogen seien, eine gefährliche Situation gegeben. Anscheinend sei der Zeuge D. - unzutreffend - der Auffassung gewesen, der Beklagte Ziffer 1 habe sich dabei nicht ordnungsgemäß verhalten. Das spätere Bremsmanöver, das zum Unfall geführt habe, sei nur dadurch erklärbar, dass der Zeuge D. auf den Beklagten Ziffer 1 "erzieherisch" habe einwirken wollen.
Das LG hat mehrere Zeugen vernommen und die Klage mit Urteil vom 30.10.2015 abgewiesen. Nach der Beweisaufnahme stehe fest, dass es für das Bremsmanöver keinen verkehrsbedingten Anlass gegeben habe. Daraus ergebe sich, dass nur eine "erzieherische" Absicht für das Manöver des Zeugen D. in Betracht komme. Die Voraussetzungen für einen Anscheinsbeweis, der normalerweise für einen schuldhaften Verkehrsverst...