Verfahrensgang
LG Köln (Aktenzeichen 19 O 110/13) |
Gründe
I. Der Senat weist darauf hin, dass die Berufung des Klägers Erfolg haben dürfte; die Anschlussberufung der Beklagten hingegen nicht.
Die vom LG ausgeworfene Haftungsquote von 70 % zu 30 % zu Lasten des Klägers ist nicht angemessen. Unter Berücksichtigung der festgestellten Tatsachen kommt jedenfalls keine höhere, als die mit der Berufung vom Kläger noch verfolgte Haftungsquote von 50 % in Betracht.
1. Der Beklagte zu 1. hat gegen § 9 Abs. 3 und Abs. 5 StVO verstoßen, da er ohne Beachtung der Vorfahrt des Klägers nach links in das Tankstellengelände abgebogen ist. Vor allem ein Verstoß gegen § 9 Abs. 5 StVO wiegt wegen der besonderen Sorgfaltsanforderungen (Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer muss ausgeschlossen sein) grundsätzlich schwer, was im Regelfall zu einer deutlich überwiegenden Haftung, wenn nicht gar zu einer Alleinhaftung des Abbiegenden führt. In diesem Zusammenhang kommt es letztlich auch nicht auf die zwischen den Parteien streitige Frage an, ob der Beklagte zu 1. mit seinem Fahrzeug tatsächlich den Fahrweg des Klägers kreuzte oder bereits vorher zum Stehen kam. Denn aufgrund des im örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Abbiegevorgang erfolgten Sturzes des Klägers spricht bereits der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass das Fahrverhalten des Beklagten zu 1. unfallursächlich war. Der Ursachenzusammenhang setzt auch nicht unbedingt voraus, dass es zu einer Fahrzeugberührung kommt. Ein Schaden ist nämlich bereits dann "bei dem Betrieb" eines Kraftfahrzeugs i.S.d. § 7 StVG entstanden, wenn sich die von einem Kraftfahrzeug ausgehenden Gefahren ausgewirkt haben. Eine Fahrzeugberührung ist dafür nicht zwingend notwendig (vgl. BGH NJW 2005, 2081). Es genügt vielmehr für einen Ursachenzusammenhang, dass ein Fahrmanöver im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang die Reaktion eines anderen Verkehrsteilnehmers auslöst (vgl. OLG Schleswig. BeckRS 2010, 12305; OLG Düsseldorf, NZV 2006, 415). Auf die vom LG bemühte Argumentation, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass das Beklagtenfahrzeug, welches sich in Vorwärtsbewegung befunden habe, durch das Bremsmanöver des Beklagten zu 1. im Moment der Bremsung für kurze Zeit ein Stück über die Flucht gehaltenen Fahrzeuge hinausgeragt habe und dann wieder ein Stück zurück gerollt sei, kommt es deshalb nicht an. Demgegenüber hat die Beweisaufnahme nicht ergeben, dass der Sturz (alleinig) auf eine nicht unfallkausale Überreaktion Klägers (Bremsfehler) zurückzuführen ist.
2. Das LG hat aber richtig erkannt, dass auch dem Kläger ein Sorgfaltspflichtverstoß anzulasten ist. Es handelt sich vorliegend um einen sog. "Lückenfall". Nach der Lückenrechtsprechung muss ein Verkehrsteilnehmer, der bei dichtem Verkehr eine Kolonne stehender Fahrzeuge überholt, sich unter Umständen auf Querverkehr (Linksabbieger) aus freigelassenen und für ihn erkennbaren größeren Lücken einrichten. Er muss es insbesondere Verkehrsteilnehmern im Querverkehr ermöglichen, aus der freigehaltenen Lücke heraus bis zur Erlangung freier Sicht auf den vor der haltenden Kolonne nicht besetzten Straßenraum herauszufahren. Dazu muss er entweder in ausreichendem Sicherheitsabstand an der Kolonne vorbeifahren oder eine so geringe Geschwindigkeit einhalten, dass er notfalls vor einem aus der Lücke herausfahrenden Verkehrsteilnehmer anhalten kann. Diese Pflicht wird aus § 1 Abs. 2 StVO hergeleitet.
Entgegen der Auffassung des KG (vgl. NZV 2007, 524; NZV 2003, 182) ist die "Lückenrechtsprechung" beim Abbiegen in eine Grundstückseinfahrt jedenfalls nicht per se ausgeschlossen. Es ist zwar richtig, dass insbesondere im Großstadtverkehr nicht auf jede beliebige Grundstückseinfahrt geachtet werden und dem grundsätzlich Vorfahrtberechtigten deshalb auch nicht zugemutet werden kann, stets besonders aufmerksam auf etwaige Lücken zu achten. Dies ist aber anders zu beurteilen, wenn besonders signifikante Grundstückseinfahrten vorhanden sind, wie dies eben auf Tankstellen zutrifft. Gerade an solchen Stellen ist nach der Verkehrspraxis bei Rückstau mit einer Lückenbildung und infolgedessen auch einem Durchfahren solcher Lücken durch den abbiegenden Gegenverkehr zu rechnen. Deshalb kann jedenfalls bei Tankstellen die "Lückenrechtsprechung" sehr wohl Anwendung finden (vgl. OLG Hamm NZV 1992, 238; OLG Frankfurt, BeckRS 2005, 30365702; BayObLG, DAR 1971, 221; OLG Karlsruhe NZV 1989, 473; a.A. im Anwendungsbereich des § 10 StVO auch: LG Saarbrücken, NZV 2013, 494; einen Überblick gibt Hagspiel, NZV 2013, 115).
3. Gleichwohl bleibt in einem solchen Fall zu beachten, dass eine Verletzung von § 1 Abs. 2 StVO ohne Hinzutreten weiterer Umstände jedenfalls nicht zu einer überwiegenden Haftung des Vorfahrtsberechtigten führen kann. Das LG hat ausgeführt, dass aufgrund der Aussage der Zeugin C davon auszugehen sei, dass der Kläger in Anbetracht der örtlichen Gegebenheiten zu schnell gefahren sei. Man kann mit der Berufung zwar durchaus bezweifeln, ob allein...