Entscheidungsstichwort (Thema)

Umgehung der geschlechterbezogenen Diskriminierung im Erbrecht über Kollisionsvorschriften

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine ausländische Rechtsvorschrift, wonach im Erbfall männliche Kinder einen doppelt so hohen Anteil am Nachlass erhalten als weibliche, verstößt gegen Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG und fällt daher unter die Vorbehaltsklausel des Art. 6 EGBGB.

2. Der für die Anwendung des Art. 6 EGBGB erforderliche Inlandsbezug liegt jedenfalls vor, wenn sich die wesentlichen Nachlasswerte im Inland befinden und (auch) deutsche Staatsangehörige beteiligt sind.

3. Sofern nicht positiv festgestellt werden kann, dass die unterschiedliche Erbfolge dem Willen des Erblassers entspricht, bleibt eine solche Rechtsvorschrift daher nach Art. 6 EGBGB unangewendet.

4. Ein Erbschein, der aufgrund des Verstoßes gegen den ordre public nach Art. 6 EGBGB materiell unrichtig ist, ist gemäß § 2361 BGB einzuziehen.

 

Normenkette

BGB § 2361; EGBGB Art. 6; FamFG § 353 Abs. 3; GG Art. 3 Abs. 2 S. 1; GNotKG §§ 34, 40, 61

 

Verfahrensgang

AG München (Beschluss vom 14.04.2020; Aktenzeichen 63 VI 5749/70)

 

Tenor

1) Die Beschwerde des Beteiligten zu 1 gegen den Beschluss des Amtsgerichts München - Nachlassgericht - vom 14.04.2020 wird zurückgewiesen.

2) Der Beteiligte zu 1 hat der Beteiligten zu 3 die im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

3) Der Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 140.739 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Die zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Zutreffend hat das Nachlassgericht den erteilten Erbschein des Amtsgerichts München vom 16.07.1970 als unrichtig eingezogen.

1. Die Einlegung der Beschwerde erfolgte mit dem Antrag, dem Beschwerdeführer einen neuen dem Erbschein vom 16.07.1970 gleichlautenden Erbschein zu erteilen. Nachdem der Erbschein vom 16.07.1970 aufgrund des Beschlusses vom 14.04.2020 an das Nachlassgericht zurückgegeben wurde und daher gemäß § 2361 Satz 2 BGB kraftlos wurde, ist die Beschwerde gemäß § 353 Abs. 3 FamFG mit diesem Ziel statthaft.

2. Die Beschwerde ist allerdings unbegründet. Zu Recht ist das Nachlassgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Voraussetzungen für die Einziehung des am 16.07.1970 erteilten Erbscheins gemäß § 2361 BGB vorliegen. Eine Anweisung an das Nachlassgericht, einen gleichlautenden Erbschein zu erteilen, kam daher nicht in Betracht.

a) Gemäß § 2361 BGB ist ein erteilter Erbschein einzuziehen, wenn dieser unrichtig ist. Unrichtig ist der Erbschein, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung entweder schon ursprünglich nicht gegeben sind oder nachträglich entfallen sind. Das Nachlassgericht hat sich in die Lage zu versetzen, als hätte es den Erbschein erstmalig zu erteilen (BayObLGZ 1980, 72 (74); Gierl in: Burandt/Rojahn 3. Auflage ≪2019≫ BGB § 2361 Rn. 4; Keidel/Zimmermann FamFG 20. Auflage ≪2020≫ § 353 Rn. 3; Krätzschel in: Firsching/Graf Nachlassrecht 11. Auflage ≪2019≫ § 39 Rn. 2).

b) Zutreffend hat das Nachlassgericht festgestellt, dass der Erbschein vom 16.07.1970 materiell unrichtig ist, da die Miterbenanteile der Beteiligten zu 1 bis 3 nicht in gleicher Höhe ausgewiesen sind.

Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat auf den angefochtenen Beschluss Bezug.

Ergänzend gilt folgendes:

aa) Maßgeblich für die Erbfolge ist das iranische Recht, da der Erblasser ausschließlich iranischer Staatsangehöriger war (Art. 8 Abs. 3 des Deutsch-Iranischen Niederlassungsabkommens vom 17.02.1929). Danach erhalten männliche Kinder einen doppelt so hohen Anteil am Nachlass als weibliche Kinder. Der Beteiligten zu 3 steht danach als Tochter des Erblassers nur die Hälfte des Anteils der Beteiligten zu 1 und 2 zu.

bb) Das iranische Recht bleibt allerdings nach Art. 6 EGBGB in dieser Hinsicht unangewendet, denn dieses Ergebnis der Anwendung iranischen Erbrechts auf den hier zu entscheidenden Fall ist mit dem im Grundgesetz verankerten Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG) nicht vereinbar. Nach Art. 6 EGBGB ist die Rechtsnorm eines anderen Staates nicht anzuwenden, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist.

(1) Die Anwendbarkeit des Art. 6 EGBGB ist durch das Deutsch-Iranische Niederlassungsabkommen vom 17.02.1929 nicht ausgeschlossen. Art. 8 Abs. 3 S. 2 des Abkommens enthält eine Öffnungsklausel für den deutschen ordre public (BGHZ 120, 29 (35); MüKoBGB/v. Hein, 8. Aufl. ≪2020≫ EGBGB Art. 6 Rn. 39; BeckOGK/Stürner Stand: 1.11.2020 EGBGB Art. 6 Rn. 116).

(2) Die Anwendung der Vorbehaltsklausel des Art. 6 EGBGB setzt voraus, dass nicht nur abstrakt die ausländische Regel selbst, sondern das Ergebnis der Anwendung des ausländischen Rechts im konkreten Fall in so starkem Widerspruch zu den Grundgedanken der deutschen Regelungen und denen in ihnen enthaltenen Gerechtigkeitsvorstellungen steht, dass es nach inländischen Vorstellungen untragbar erscheint (BGHZ 118, 312/330; KG NJW-RR 2008, 1109/1111; OLG Hamm FamRZ 1993 111/...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge