Entscheidungsstichwort (Thema)
Aussetzung eines Verfahrens gegen die Abschlussprüferin der W. AG im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des LG München I vom 14.03.2022, Gz. 3 OH 2767/22 KapMuG, auch hinsichtlich des Erwerbs von Derivaten
Leitsatz (amtlich)
1. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt nicht i.S.v. § 8 KapMuG von den geltend gemachten Feststellungszielen ab, wenn die Sache ohne weitere Beweiserhebung entscheidungsreif ist. Dabei hat nicht etwa lediglich eine kursorische Schlüssigkeitsprüfung stattzufinden, sondern eine volle Sachprüfung nach Grund und Höhe des Anspruchs. Wenn und soweit die Klage - ggf. nach entsprechendem Hinweis gem. § 139 ZPO - unschlüssig oder ohne ausreichende Beweisangebote ist, ist sie abzuweisen und nicht das Verfahren auszusetzen.
2. Beim Erwerb von Aktien spricht die allgemeine Lebenserfahrung dafür, dass die Anleger die Aktien in Kenntnis der behaupteten Machenschaften und der damit verbundenen Insolvenzgefahr nicht gekauft hätten. Deshalb können sich Anleger beim Erwerb von Aktien auf einen Erfahrungssatz berufen und müssen zu ihrer Kaufmotivation weder individuell vortragen noch hierfür Beweis anbieten (Bestätigung von Senat, Hinweis vom 09.12.2021, Gz. 8 U 6063/21, BeckRS 2021, 43191).
3. Bei Investments mit rein spekulativem Charakter besteht dagegen kein derartiger Erfahrungssatz. Deshalb ist im Falle des Erwerbs von Aktien-Derivaten neben einer näheren schriftsätzlichen Erläuterung der entsprechenden Geschäfte und deren Abhängigkeit vom Kurs der W.-Aktie ggf. auch eine konkrete Darlegung und ggf. ein konkreter Nachweis der individuellen Kausalität - die von dem Vorlagebeschluss ausdrücklich nicht erfasst wird - erforderlich (Bestätigung von Senat, Beschluss vom 16.11.2021 - 8 W 1541/21, NZG 2022, 239 Rn. 16, zu Optionsscheinen).
4. Die Abhängigkeit von den Feststellungszielen i.S.v. § 8 KapMuG ist bei der Aussetzungsentscheidung durch das Prozessgericht abstrakt zu beurteilen; deshalb genügt es, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von den Feststellungszielen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit abhängen kann. Es ist nicht erforderlich, dass die Entscheidung nach Klärung sämtlicher übriger Anspruchsvoraussetzungen und Rechtsfragen nur noch von den Feststellungszielen abhängt. Bei der Beurteilung dieser Fragen hat der Gesetzgeber dem Prozessgericht einen gewissen Beurteilungsspielraum eingeräumt (Abweichung von BGH, Beschluss vom 30.04.2019 - XI ZB 13/18).
Normenkette
BGB §§ 826, 830 Abs. 2; KapMuG §§ 8, 1; WpHG a.F. i.V.m
Verfahrensgang
LG München I (Beschluss vom 14.03.2022; Aktenzeichen 22 O 7937/21) |
Tenor
1. Das Berufungsverfahren wird im Hinblick auf den am 16.03.2022 im elektronischen Bundesanzeiger veröffentlichten Vorlagebeschluss des Landgerichts München I - 3. Zivilkammer - vom 14.03.2022, Gz. 3 OH 2767/ 22 KapMuG, gem. § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG ausgesetzt.
2. Die Höhe des Anspruchs, die von den Feststellungszielen des Musterverfahrens betroffen ist, beträgt 161.217,49 EUR (§ 8 Abs. 4 KapMuG).
3. Die Parteien werden gem. § 8 Abs. 3 KapMuG darüber unterrichtet,
a) dass die anteiligen Kosten des Musterverfahrens zu den Kosten des Rechtsstreits gehören, und
b) dass dies nicht gilt, wenn die Klage innerhalb von einem Monat ab Zustellung dieses Aussetzungsbeschlusses zurückgenommen wird.
4. Die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof wird zugelassen, soweit auch eine Aussetzung wegen des Erwerbs anderer Wertpapiere als Aktien erfolgt ist.
Gründe
I. Die Klagepartei verlangt den Feststellungen des Landgerichts zufolge von der Beklagten zum einen Schadensersatz im Zusammenhang mit dem Erwerb von Aktien der W. AG. Sie trägt dazu vor, sie habe im Vertrauen auf die Richtigkeit der von der Beklagten erstellten Bestätigungsvermerke zwischen 13.02.2019 und dem 28.04.2020 1.344 Aktien der W. AG zum Gesamtpreis von 143.171,83 EUR erworben (Anlage rm45). Ferner habe sie am 27.05.2019 eine Anleihe auf die W. Aktie zu einem Preis von 10.000 EUR erworben. Am 10.03.2020 sowie am 17.03.2020 habe sie zudem Call-Optionsscheine der D. AG auf Aktien der W. AG für insgesamt 13.808,13 EUR erworben. Am 29.06.2020 habe sie sämtliche Aktien zu einem Gesamtpreis von 4.425,62 EUR sowie die Call-Optionsscheine zu einem Gesamtpreis von 34,52 EUR veräußert.
Die Beklagte war seit 2010 Abschlussprüferin der W. AG. Sie hat sämtliche Jahresabschlüsse bis einschließlich für das Geschäftsjahr 2018 ohne Einschränkungen testiert.
Ende 2018 meldete sich ein Wistleblower bei der F. und behauptete, dass das "Acquiring"-Geschäft von W. in Asien in wesentlichem Umfang keine realistische Grundlage habe. Nach weiteren Recherchen veröffentlichte die F. am 30.01.2019, 01.02.2019 und 02.02.2019 kritische Artikel über die W. AG, wonach es schwere Probleme in Singapur gebe, da Mitarbeiter von W. die Zahlen geschönt hätten. Die Folge waren Kursverluste der Aktien der W. AG. Am 15.10.2019 berichtete die F. erneut negativ über den W.-Konzern. Wieder kam es zu Kursverlusten. Von Februar 2019 bis April 2019 verhängte die BaF...