Leitsatz (amtlich)
1. Der Kfz-Führer, der vor einem Lkw fährt und von der Bundesstraße nach links in einen Waldweg abbiegt, haftet für die Unfallfolgen in der Regel allein, wenn der den Lkw überholende, nachfolgende Fahrzeugführer mit dem Linksabbieger zusammenstößt.
2.1 Einem Insassen (hier ein angeschnalltes Kind), der im abbiegenden Kfz saß, können die beteiligten Fahrzeughalter keine Mitverursachungsquote anlasten.
2.2 Der geschädigte Kfz-Insasse, der weder Fahrzeughalter noch -führer ist, haftet als unbeteiligter Dritter nach § 17 Abs. 1 StVG auch nicht anteilsmäßig, weil er den Schaden nicht verursacht hat.
2.3 Für seinen Schaden haften die beteiligten Halter oder Fahrzeugführer entsprechend § 840 Abs. 1 BGB als Gesamtschuldner.
Verfahrensgang
LG Stendal (Urteil vom 13.08.2008; Aktenzeichen 23 O 16/08) |
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin zu 2) wird unter Zurückweisung des Rechtsmittels der Klägerin zu 1) und des weitergehenden Rechtsmittels der Klägerin zu 2) das Urteil des LG Stendal vom 13.8.2008 - 23 O 16/08, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin zu 2) 312,48 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 250 EUR seit dem 7.11.2007 und aus 62,48 EUR seit dem 27.2.2008 zu zahlen.
Die Klage der Klägerin zu 1) und die weitergehende Klage der Klägerin zu 2) werden abgewiesen.
2. Die Gerichtskosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin zu 1) zu 88 %, die Klägerin zu 2) zu 8 % und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 4 %. Von den außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin zu 1) 88 % der der Beklagten, die Klägerin zu 2) 8 % der der Beklagten und die Beklagten als Gesamtschuldner 36 % der der Klägerin zu 2). Im Übrigen trägt jede Partei ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Klägerinnen machen Ersatz materiellen und immateriellen Schadens aus einem Verkehrsunfall geltend.
1. Am 10.7.2007 gegen 16:10 Uhr überholte die Beklagte zu 1) mit ihrem Pkw, der bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert ist, auf der B 189 zwischen L. und D. auf gerader Strecke einen Lkw, dem sie zuvor eine Zeit lang gefolgt war. Die Klägerin zu 1), die mit ihrer 3 Jahre alten Tochter, der Klägerin zu 2), in selber Fahrtrichtung vor dem Lkw fuhr, bog nach links zu einem Waldweg ab. Dabei kollidierte sie auf der Überholspur mit der von hinten überholenden Beklagten zu 1). Die Klägerin zu 2) saß hinten rechts und war angegurtet.
2. Die Klägerinnen haben behauptet, die Klägerin zu 1) habe ausreichend vor dem Abbiegevorgang den rückwärtigen Verkehr beobachtet, rechtzeitig den linken Richtungsanzeiger gesetzt, sich zur Mitte hin eingeordnet, ihre Fahrgeschwindigkeit deutlich verringert und nach erneuter Rückschau sehr langsam den Abbiegevorgang vorgenommen. Der Lkw habe seine Geschwindigkeit ebenfalls reduziert. Der Pkw der Beklagten zu 1) sei durch den Lkw verdeckt gewesen und habe diesen erst nach Beginn des Abbiegemanövers in "sehr schneller Geschwindigkeit" überholt. Die Beklagte zu 1) habe damit bei "unklarer Verkehrslage" i.S.d. § 5 Abs. 3 StVO zum Überholen angesetzt. Die Klägerin zu 1) hat materiellen Schaden i.H.v. 4.124,45 EUR (Fahrzeugschaden: 3.680 EUR; Nutzungsausfallentschädigung: 10 Tage × 27 EUR = 270 EUR; Kostenpauschale: 25 EUR; Kosten für die Abmeldung: 15 EUR; Kosten für die Neuanmeldung: 39,70 EUR; Neue Kennzeichentafeln: 31 EUR; Zuzahlung für Notfallbehandlung: 10 EUR; Zuzahlung für Rettungswagentransport: 10 EUR; Hausarztzuzahlung: 10 EUR und Fahrtkosten 135 km × 0,25 EUR = 33,75 EUR) sowie wegen eines HWS-Schleudertrauma, eines Schädel-Hirn-Trauma I. Grades und Prellung ihres linken Unterschenkels 2.000 EUR Schmerzensgeld geltend gemacht. Die Klägerin zu 2) habe, so die Behauptung der Klägerinnen, eine Schädelprellung frontal erlitten, wofür ein Schmerzensgeld von 500 EUR angemessen sei. Darüber hinaus haben die Klägerinnen Erstattung der ihnen vorprozessual entstandenen Rechtsanwaltsgebühren verlangt.
3. Die Beklagten haben bestritten, dass der Lkw, bevor die Beklagte zu 1) ihren Überholvorgang ansetzte, abgebremst habe. Vielmehr sei die Beklagte zu 1) bereits etwa zur Hälfte an dem Lkw auf der Überholspur vorbeigefahren, als die Klägerin zu 1), die sich nicht zur Mitte eingeordnet hätte, plötzlich den linken Blinker gesetzt habe und nach links in Richtung Waldweg abgebogen sei. Der Unfall habe sich deshalb für die Beklagte zu 1) als unabwendbares Ereignis dargestellt. In jedem Fall müsse aber die Betriebsgefahr auf Beklagtenseite hinter dem groben Verschulden der Klägerin zu 1) zurücktreten.
4. Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Klägerin zu 1) habe gegen § 9 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 StVO verstoßen. Sie habe nicht nach links abbiegen dürfen, da der Lkw die Sicht auf rückwärtigen Verkehr behindert habe. Des Weiteren habe sie der zweiten Rückschaupflicht unmittelbar vor dem Abbiegen nicht Rechnung ...