Leitsatz (amtlich)
Im Unfallversicherungsprozess ist es dem Gericht nicht gestattet, die Einholung eines vom Versicherungsnehmer beantragten Sachverständigengutachtens mit der Begründung abzulehnen, aufgrund zweier vom Versicherer beauftragten Privatgutachten sei erwiesen, dass die auf medizinischem Gebiet zu beurteilenden Anspruchsvoraussetzungen nicht gegeben seien. Ein solche Verfahrensweise verletzt den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör und stellt einen wesentlichen Mangel i.S.d. § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO dar.
Verfahrensgang
LG Nürnberg-Fürth (Aktenzeichen 8 O 5003/20) |
Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 19.03.2021, Az. 8 O 5003/20, aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Berufung, an das Landgericht zurückverwiesen.
2. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Parteien dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Beschluss
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 31.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die Parteien streiten über Ansprüche aus einer privaten Unfallversicherung, die der Kläger seit 2011 bei der Beklagten unterhält (Anlage B 1).
Dem Vertrag liegen die Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen der Beklagten (im Folgenden: AUB; Anlage B 2) zugrunde. Ferner ist vereinbart, dass die Beklagte ab einem bedingungsgemäßen Invaliditätsgrad von 50 % eine lebenslange Rente von monatlich 750 EUR an den Kläger zahlt.
Hintergrund des Rechtsstreits ist ein Unfall, den der zu diesem Zeitpunkt 68-jährige Kläger am 20.10.2016 im eigenen Haushalt erlitt und bei dem er sich einen Oberschenkelhalsbruch zuzog (Anlagen B 3 und B 4). Nach Anmeldung der Ansprüche trat die Beklagte in die Leistungsprüfung ein und holte zunächst ein orthopädisches Fachgutachten des Herrn Dr. S. ein, welches am 20.06.2018 erstattet wurde (Anlage K 1). Ein weiteres unfallchirurgisches Fachgutachten im Auftrag der Beklagten erstattete Herr Prof. Dr. P. am 28.08.2019 (Anlage K 2). Auf dieser Grundlage lehnte die Beklagte eine Einstandspflicht ab, weil bei dem Kläger ein unfallbedingter Invaliditätsgrad von lediglich 21 % verbleibe und die vertraglichen Voraussetzungen der Invaliditätsrente daher nicht erfüllt seien (Anlagen K 3 und K 5).
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
Das Landgericht hat die auf lebenslange Zahlung von monatlich 750 EUR seit dem 20.10.2016 gerichtete Klage mit Endurteil vom 19.03.2021 ohne Beweisaufnahme vollständig abgewiesen. Es hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass es nur auf die unfallbedingte Beeinträchtigung des linken Beines des Klägers ankomme. Hierfür gelte die Gliedertaxe in Ziffer 2.1.2.2.1 AUB. Ohne weitere Beweisaufnahme lasse sich nur aufgrund der beiden vorliegenden Privatgutachten feststellen, dass jedenfalls keine Invalidität von 50 % eingetreten sei. Dies gelte auch dann, wenn man - der Argumentation des Klägers folgend - keinerlei Vorinvalidität berücksichtige. Der Kläger habe keine nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür geliefert, dass das in beiden Privatgutachten festgestellte Ausmaß der dauerhaften Gesamtbeeinträchtigung unzutreffend sei.
Dieses Urteil wurde den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 23.03.2021 zugestellt. Die hiergegen gerichtete Berufung ging am 22.04.2021 per Telefax beim Oberlandesgericht Nürnberg ein (Bl. 66/67 d.A.). Das Rechtsmittel wurde mit einem am 10.05.2021 per Telefax eingegangenen Schriftsatz begründet (Bl. 74 ff. d.A.).
Der Kläger beantragt in zweiter Instanz,
das am 19.03.2021 verkündete und am 23.03.2021 zugestellte Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth, Az.: 8 O 5003/20, aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger eine monatliche Rente in Höhe von 750,- EUR seit dem 20.10.2016 dauerhaft zu bezahlen bis zu dem Monat, in dem der Kläger stirbt.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil mit ihrer Erwiderung vom 17.06.2021 (Bl. 84 ff. d.A.).
Mit Schriftsatz vom 09.07.2021 hat der Kläger ergänzend beantragt, die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen (Bl. 95 d.A.).
Nachdem beide Parteien ihr Einverständnis erklärt haben, hat der Senat mit Beschluss vom 19.07.2021 angeordnet, dass eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren ergeht (Bl. 101/102 d.A.).
II. Die zulässige Berufung des Klägers hat vorläufig Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
1. Das Urteil beruht auf einem entscheidungserheblichen Rechtsfehler (§ 513 Abs. 1 ZPO). Infolgedessen bestehen durchgreifende Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der in erster Instanz getroffenen Feststellungen, welche d...