Leitsatz (amtlich)
Im einstweiligen Verfügungsverfahren kann dem Antragsgegner auch dann, wenn er zum Verfahrensbeteiligten geworden ist, abweichend vom Grundsatz des § 299 Abs. 1 ZPO Akteneinsicht zu verweigern sein, wenn ansonsten der Verfahrenszweck (hier Überraschungseffekt) gefährdet würde.
Normenkette
ZPO § 299 Abs. 1
Tenor
Das Gesuch des Antragsgegners, ihm Akteneinsicht zu gewähren, wird abgelehnt.
Gründe
I. Die Antragsteller haben gegen den Antragsgegner beim LG Stralsund den Erlass einer einstweiligen Verfügung beantragt. Das LG hat diesen Antrag zurückgewiesen. Hiergegen haben die Antragsteller sofortige Beschwerde eingelegt. Der Antragsgegner ist durch das Gericht bislang nicht herangezogen worden. Allerdings ist ihm durch die Geschäftsstellenbeamtin des OLG versehentlich das hiesige Aktenzeichen mitgeteilt worden.
Auf diese Mitteilung hin hat sich für den Antragsgegner dessen Verfahrensbevollmächtigter zum Verfahren unter Vorlage einer Vollmacht legitimiert und ohne weitere Begründung die Gewährung von Akteneinsicht beantragt.
II. Dem Akteneinsichtsgesuch war vorliegend nicht stattzugeben.
Gemäß § 299 Abs. 1 ZPO ist zwar grundsätzlich den Parteien des Verfahrens Akteneinsicht zu gewähren. Wann in einem einstweiligen Verfügungsverfahren, in welchem ohne Heranziehung des Gegners durch das Gericht im Beschlusswege schriftlich entschieden wird, der Antragsgegner Partei i.S.d. § 299 Abs. 1 ZPO wird, wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beantwortet. Die wohl herrschende Meinung stellt darauf ab, wann der Antragsgegner erstmals tatsächlich am Verfahren beteiligt wird. Das ist in aller Regel der Zeitpunkt, in dem ihm durch den Antragsteller gem. § 922 Abs. 2 ZPO der die begehrte einstweilige Verfügung erlassene Beschluss zugestellt wird. Hat der Antragsgegner hingegen bereits eine Schutzschrift bei Gericht hinterlegt, soll er von Anfang an an dem Verfahren beteiligt sein (vgl. hierzu Zöller/Greger, ZPO, § 28. Aufl., § 299 Rz. 2, Vollkommer, a.a.O., Vorbem. 5b vor § 916 m.w.N.).
Erfährt der Antragsgegner - auf welche Weise auch immer - von dem einstweiligen Verfügungsverfahren vor Zustellung eines Beschlusses und begehrt er zur Geltendmachung des rechtlichen Gehörs Einsicht in die Prozessakten, bringt er hiermit zum Ausdruck, zumindest im Rahmen des rechtlichen Gehörs am Verfahren teilnehmen zu wollen. Er beteiligt sich hierdurch tatsächlich am Verfahren, so dass er von diesem Zeitpunkt an als Partei zu behandeln sein wird (Zöller/Vollkommer, a.a.O., Vorbem. 5b vor § 916; OLG Hamm OLGReport Hamm 1994, 96).
Von dem gesetzlich fixierten Grundsatz des § 299 Abs. 1 ZPO, dass den Parteien stets Akteneinsicht zu gewähren ist, ist jedoch dann eine Ausnahme zu machen, wenn dies mit Sinn und Zweck des Gesetzes deshalb nicht vereinbar ist, weil diese Akteneinsicht den Zweck des angestrebten Verfahrens zuwider läuft. Als einen Zweck des einstweiligen Verfügungsverfahrens ist der in § 922 Abs. 2 und 3 ZPO implizierte Überraschungseffekt zu sehen. Hat der Verfügungsantrag nämlich Erfolg und wird diesem im Beschlusswege stattgegeben, erfährt der Antragsgegner erst durch die Zustellung des Titels von der mit dem Verfügungsantrag verfolgten Maßnahme. Somit kann verhindert werden, dass der Antragsgegner in Kenntnis des Begehrten Maßnahmen trifft, die geeignet sind, die erlassene einstweilige Verfügung in Leere laufen zu lassen. Wird dem Antrag im schriftlichen Verfahren nicht stattgegeben, ist der Antragsgegner gem. § 922 Abs. 3 ZPO ebenfalls durch das Gericht nicht zu unterrichten. Hierdurch soll verhindert werden, dass er für den Fall eines wiederholten und erfolgreichen Antrags des Antragstellers Vereitelungsmaßnahmen trifft.
Wenn in einem einstweiligen Verfügungsverfahren der Überraschungseffekt zugunsten des Antragstellers streitet und zumindest die Möglichkeit ernsthaft in Betracht kommt, dass der Antragsgegner Vereitelungsmaßnahmen ergreifen kann, kann auch dem beteiligten Antragsgegner die Akteneinsicht verwehrt werden (OLG Hamm, a.a.O.). Dies gilt jedenfalls, wenn das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist oder eine erfolgreiche Antragswiederholung ernsthaft in Betracht zu ziehen ist. Vorliegend ist das Verfahren nicht abgeschlossen und es können ernsthaft Handlungen des Antragsgegners in Betracht gezogen werden, die den Erfolg des Verfügungsverfahrens gefährden oder vereiteln können.
Fundstellen
NJW-RR 2011, 571 |
MDR 2011, 384 |